Nebensache Mensch
Thesen zur Religion des Kapitalismus

Folienvortrag, Ökumenischer Kirchentag München, Donnerstag, d. 13. Mai 2010, Eine-Welt-Haus, Schwantaler Str. 80, München Raum 211

Ich möchte am Beginn meines Vortrags zwei Texte nebeneinander stellen, die sozusagen die Grundmelodie für alles Weitere bilden:

Es ist ein „Goldpsalm“ und ein zentraler Text aus der Großen Erzählung der biblischen Schriften:

Zunächst das 5. Buch Mose, Kap 4, 15-20, Übersetzung nach Ton Veerkamp

Bewahrt sehr eure Seele davor - denn ihr habt nicht irgendeine Gestalt gesehen am Tag, als der EWIGE mit euch redete, am Choreb, mitten aus dem Feuer-:

Dass ihr ja nicht vergesst,
euch etwa ein Schnitzbild macht,
Gestalt aller Art,
Konstrukt, männlich oder weiblich,
Konstrukt von allerlei Vieh auf der Erde,
Konstrukt von allerlei Federgeflügel, was am Himmel fliegt,
Konstrukt von allerlei Geschmeiß auf dem Boden,
Konstrukt von allerlei Fisch im Wasser unter der Erde,
dass ihr nicht erhebt eure Augen himmelwärts -
ihr seht die Sonne, den Mond, die Gestirne, das ganze Himmelsheer -,
damit ihr nicht abirrt,
euch nicht vor ihnen niederwerft.
ihnen dient,
sie, die der EWIGE zuteilte
allen Völkern unter dem Himmel.

Euch aber nahm der EWIGE,
führte euch aus dem eisernen Kessel, aus Ägypten,
ihm das eigene (Beispiel-)Volk zu werden,
wie an diesem Tag…

Der zweite Text ist der „Goldpsalm“, erschienen in einer Schweizer Wochenzeitung, eigentlich Werbetexte, die über eine Woche in dieser Zeitung verteilt waren, zusammengefasst durch Kuno Füssel im

Goldpsalm

Gold ist Bestätigung.
Sein Versprechen hat Gewicht.
Gold ist Überraschung,
Es übertrifft die größte Erwartung.
Gold ist Sicherheit,
auf seine Stabilität vertraut die Welt.
Gold hat Ausstrahlung.
Sie verliert nie an Glanz.

Gold ist Treue,
es verrät seinen Besitzer nicht.
Gold ist Ewigkeit,
seine Faszination überdauert die Zeit.
Gold ist Geheimnis,
niemand vermag seine Faszination
ganz zu ergründen.
Gold zeigt Gefühl,
sanft, stet und verlässlich.
Gold ist Dankbarkeit,
es weiß sich unvergänglich auszudrücken.

Gold ist Liebe,
es gibt kaum ein edleres Zeichen dafür.
Gold ist Vertrauen,
sein Wert hält Bestand.
Gold ist Zuneigung,
es drückt Gefühle besser aus als tausend Worte.
Gold ist Sehnsucht,
seine Attraktion verblasst nie. Wir brauchen nur zwei Buchstaben auszuwechseln, um von „Gold“ zu „Gott“ zu kommen. Und die Börse macht uns das ja gegenwärtig wieder vor. Der Goldpreis steigt und steigt in diesen Zeiten. Das macht den „Goldpsalm so aktuell, während die eine Grundfrage in Vergessenheit gerät, die die Große Erzählung der biblischen Schriften immer wieder durchzieht:

Welchem Gott lauft ihr hinterher?

Oder mit Luther, eigentlich genau so scharf ausgedrückt:
Wo dein Herz ist, da ist auch dein Gott.

Es geht also um Religionskritik. Es geht nicht darum, ob Gott existiert oder nicht, das ist eine philosophische Frage der Neuzeit. Es geht darum, was in unserer Kultur, die sich noch „christlich“ nennt, als „Gott“ funktioniert, als diejenige Instanz, vor der wir uns niederwerfen und ihr dienen.

Wem dienen wir und wem dient die Kirche?

(Folie 1: Gottesdienstraum)

Und damit komme ich zur ersten These:

Wir haben es mit einer „Kirche im Kapitalismus“ zu tun. Aber diese Kirche ist „salzlos“ geworden.

Während Wissenschaftler, Zeitungen und Zeitschriften von der „Rückkehr der Religion“, von der „Weltmacht Religion“ sprechen und sich dabei ganz und gar auf die vielfältigen Erscheinungen auf dem religiösen Markt stürzen, „verdunstet“ nach einem Wort von Karl Rahner die biblische Orientierung. Die Bibel ist das am meisten nichtgelesene Buch in unserer europäischen Gesellschaft.

Ich unterrichte zur Zeit noch 6 Stunden in der Oberstufe. Für mehr als 70 Prozent meiner Schüler gibt es kein Umfeld mehr, in dem biblische Orientierung, konkretere Vorstellungen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eine Rolle spielen, allenfalls zivilreligiöse Elemente. Ich bin froh, dass es wenigstens diese Reste christlicher Orientierung noch gibt.

Aber fast alle haben die Konfirmation erlebt. Mir scheint, sie haben dieses „Event“ als einen Initiationsritus in den Kapitalismus erlebt (wobei ich den vielen Mühen der Pfarrerinnen und Pfarrer meinen Respekt zolle). Aber was ist übriggeblieben, wenn der Geldpreis für das Ertragen des Konfirmandenunterrichts eine größere Rolle spielt als die Einführung junger Menschen in eine konkrete christliche Gemeinde.

Dazu noch eine erschreckende Beobachtung zum Konfirmandenalter. Gehirnforscher haben inzwischen herausgefunden, dass sich vor allem zwischen dem 10. Und 15. Lebensjahr – also dem Konfirmandenalter – die Zellen des Präfrontalcortex der vorderen Stirnregion verstärken, in denen sich unter anderem Gesinnungen, Wertevorstellungen formieren. Was passiert mit den jungen Menschen?

„Nach Untersuchungen in den USA“, so berichtet der Gehirnforscher und Psychologe, Manfred Spitzer“ haben Jugendliche zwischen 5 und 18 Jahren (ohne dass gewalttätige Computerspiel berücksichtigt sind) im Kino oder Fernsehen etwa 32 000 Morde und 200 000 Gewalttaten gesehen. Wenn Sie dazu wissen,“, so fährt er fort, „dass das Hirn die Statistik dieser Erfahrung in sich aufnimmt, um späteres Verhalten zu produzieren, stimmt das wenig zuversichtlich. Dazu kommt – Resultat einer Untersuchung von 2 500 Stunden Fernsehprogramm -, dass in diesen Filmen bei nur 4 % aller Gewalttaten gewaltfreie Konfliktlösungsmöglichkeiten diskutiert werden. In über 50 % dieser Filme tut Gewalt nicht weh, und in über 70 % kommt der Gewalttäter davon.

Das tut wir momentan unseren Kindern an…“ und – möchte ich hinzufügen -, wir schicken sie so ausgerüstet mit 18, 19, 20 Jahren in einen Krieg im Irak oder in Afghanistan oder anderswo.

Demgegenüber steht, dass vielleicht einmal im Konfirmanden- oder Religionsunterricht die Erzählung vom Samaritaner oder die Bergrede gehört und diskutiert wurde.

Das ist nur ein Beispiel, an dem deutlich wird:

„Gelernt“ und verinnerlicht wird längst eine andere Religion, die alle Lebensprozesse durchzieht und bestimmt. Es ist eine gnadenlose Religion, deren Konstruktionsbedingungen uns verschleiert werden, über deren Ausdrucksform, das Geld, das Kapital, die Börse die gesamte Wirklichkeit gedeutet wird.

(Folie 2: Die Börse)

In einem Fragment von 1921 beschreibt Walter Benjamin den Kapitalismus als

  1. reine Kultreligion, die „keine spezielle Dogmatik, keine Theologie“ braucht, in welcher
  2. der Utilitarismus, d.h. das Kosten/Nutzen-Kalkül zur gewöhnlichen religiösen Praxis wird, die
  3. den Kultus als permanenten „Kult“ feiert (für den es selbstverständlich ist, dass wir auch sonntags die Freiheit des Kaufens genießen können): „Es gibt keinen „Wochentag“, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes ist,“ der mit äußerster Anspannung dem zu verehrenden Gott des Kapitalismus gewidmet ist. Und
  4. dieser „Kapitalismus (ist) vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus.“ Wir können der Schuldenfalle nicht entrinnen. Das erkennen wir in der immer schneller sich entwickelnden Abfolge von Krisen.

Ich komme damit zur These 2:

Die Religion des Kapitalismus ist eine verschuldende Religion. Sie verstrickt uns in das, was Dorothee Sölle strukturelle Sünde genannt hat.

Die Religion des Kapitalismus beteiligt uns an ihrer Struktur, ob wir wollen oder nicht. Sie verschleiert ihre Konstrukte durch die Geschwätzigkeit der Medien. Sie versteckt sich hinter dem Ausspruch „Es gibt keine Alternative“. Sie bindet uns ein, in dem sie alle menschlichen Fähigkeiten hinter dem mathematisch berechenbaren Kosten-Nutzen-Kalkül verschwinden lässt. Der amerikanische Ökonom Gary Becker erhielt 1992 den Nobelpreis für seine Untersuchungen, wie mathematisch der Nutzen berechnet werden kann, ob es sich lohnt, ein Kind zu bekommen, welchen Nutzen es bringt, wenn ich mich verliebe oder auch wie ich berechnen kann, ob sich ein Diebstahl lohnt oder nicht.

Er ist der „Erfinder“ des Begriffs „Humankapital“. Im vorigen Jahr hörte ich, dass jemand den Nobelpreis dafür bekommen hat, wie man komplizierte Finanzderivate berechnen kann. Spekulanten wetten also mit Hilfe rational durchdachter Computerprogramme im Glaubenssystem dessen, was wir Finanzmärkte nennen. Wie stark die Kredite auf dem Credo, dem Glauben beruhen, zeigte sich auch in der Äußerung des ehemaligen Finanzministers Steinbrück, dass die Banken sog. Innovative Finanzprodukte anböten, die er selbst beim besten Willen nicht verstehen könne.

(Folie 3: Finance)

Die Zeitschrift „Finance“ drückt die Eingebundenheit in die strukturelle Sünde folgendermaßen aus: „Ausgeliefert. Warum Finanzchefs gegen Währungschwankungen machtlos sind. Der Nestor der neoliberalen Ökonomie Milton Friedman hat das in einem Satz zusammengefasst: „Die wirtschaftlichen Personen sind nichts anderes als Marionette der Gesetze des Marktes.“

(Folie 4: Milton Friedman)

Die Absolutheit der Aussagen, ihre dahinter aufleuchtende Dogmatik lässt danach fragen, um welche Religion es sich hier handelt. Hier hilft mir Erich Fromm weiter, der eine weite Definition von „Religion“ entwickelt hat, die auch den heute gebräuchlichen Definitionen in der Religionswissenschaft ähnelt:

(Folie 5: Erich Fromm)

„Religion ist jedes System des Denkens und Tuns, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Orientierungsmaßstab und einen Gegenstand zur Hingabe bietet.“

Was ist unser Orientierungsmaßstab, unser Gegenstand zur Hingabe? Was ist uns heilig?

Ich komme zur These 3:

Geld ist „Vermögen“, ein Versprechen auf zukünftige Optionen. „Geld“ und „Gott“ sind unterschiedliche Chiffren, die auf die Möglichkeiten der ‚zukünftigen Welt‘ weisen. (Anmerkung: Bei Matthäus: Reich der Himmel)

Im Mittelpunkt neoliberaler Ideologie steht die Kosten-Nutzen-Rechnung, die auf alles menschliche Tun und Denken angewendet wird. Die Maßeinheit für diese Rechnung ist immer das Geld. Damit hat sich ökonomisch, politisch und ideologisch eine fundamentalistische Deutung der Wirklichkeit durchgesetzt. Walter Benjamin hat das richtig gesehen: Grundlage allen Denkens und Handelns ist eine Form des platten Utilitarismus, im Volksmund: „Was bringt mir das?“ oder „Rechnet sich das?

„Sie müssen endlich begreifen, dass Sie ein Kostenfaktor sind“, sagte der Moderator unseres Qualitätssicherungsprozesses im PTI. Dabei dachte ich, dass ich vor allem meine Fähigkeiten und meine Erfahrungen einbringen könnte.

(Folie 6: Dollar)

Das Geld, so heißt es im Kommuinistischen Manifest (1848) prägt Individuum und Gesellschaft. Die Bourgoisie hat „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘“…Menschliche Verhältnisse werden auf ein „reines Geldverhältnis zurückgeführt.“

Die „“Reichsreligion“ des Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Neben ihr dürfen auch andere Religionen bestehen, aus denen sich jeder sein Patchwork zusammensetzt, sich seinen Gott zusammenzimmert. Das gilt auch für das das Christentum. Alles ist gleich gültig, solange das eigentlich Grunddogma, die Herrschaft des Geldes über den Menschen nicht angetastet wird. Analogien gibt es dazu in den biblischen Schriften.

Das „summum bonum“, das „Höchste Gute“ dieser Reichsreligion ist das „Vermögen“, „Geld“, „Kapital“ und dem entspricht das Ziel der Religion des Kapitalismus: Der Profit, das „Mehr-haben-Wollen“, die „pleonexia“, wie Paulus sagen würde.

Für die Gegenwart hat dies der Wirtschaftsjournalist Paul Jorion in einem Gespräch zusammengefasst:

„Vergleicht man die Krise von 1929, die in den USA begann und dann zur Weltwirtschaftskrise wurde, und die Krise, mit der wir es seit 2007 zu tun bekamen, so ergibt sich eine verblüffende Gemeinsamkeit: Die Konzentration des wirtschaftlichen Reichtums in den Händen einer winzigen Minderheit. Dahinter steht ein sehr einfacher ökonomischer Mechanismus. Wenn sich das Geld nicht dort befindet, wo es tatsächlich gebraucht wird, sei es, um in einem Unternehmen etwas zu produzieren, sei es im privaten Haushalt, um langlebige Konsumgüter anzuschaffen oder weil der Lohn nicht zum Leben reicht, weil die Reallöhne stagnieren oder sogar sinken, - dann muss man es sich über Kredite beschaffen. Für Kredite aber müssen Zinsen bezahlt werden. Diese Zinsen fließen dem Kapitaleigner zu. Es ist somit ein unerbittliches logisches Gesetz: Die Konzentration des Reichtums ist ein sich selbst verstärkender Prozess. Wenn das Geld in einem Wirtschaftssystem ungleich verteilt ist, prägt sich diese ungleiche Verteilung im Laufe der Zeit immer mehr aus…Das Geld und sein Preis haben heute eine alles beherrschende Rolle, die sich ständig verstärkt. Das Finanzsystem besitzt gleichsam göttliche Allgegenwart und schöpft bei jeder Wirtschaftsoperation seinen Profit.“

(Folie 7: 384 Milliardäre)

In seiner globalisierten Form der anonym erscheinenden „Finanzmärkte“ hat sich so eine neue Weltordnung entwickelt, dessen Gesetzmäßigkeiten sich die Menschen unterzuordnen haben. Sie sind Kostenfaktoren, allenfalls „Humankapital“.

[„Geld ist die Verheißung absoluten Reichtums“ formuliert Christoph Deutschmann in seinem gleichnamigen Buch: „Geld hat zwar die Eigenschaften eines Kommunikationsmediums (vor allem in der Zirkulationssphäre (H:F.), aber es ist …Wertsymbol und Wertgegenstand zugleich. Wie Gott verweist es auf nichts Bestimmtes, auf Wirkliches wie Mögliches, Positives wie Negatives. Es ist, was es bedeutet und tritt selbst an dessen Stelle… Die Recheneinheit Geld misst etwas Unsichtbares, sie bezeichnet ebensowenig etwas Bestimmtes wie die Formel ‚Gott‘“ oder wie es Ton Veerkamp in seinem Buch „Der Gott der Liberalen“ (S. 194) mit Karl Marx formuliert:]

(Ton Veerkamp formuliert in seinem Buch „Der Gott der Lieberalen“:) „Geld täuscht einen gottähnlichen Glanz vor. Indem Geld zu Kapital gemacht werden muss und so die Ökonomie des Kapitalismus, als Alpha und Omega, als Ausgangs- und Zielpunkt, absolut bestimmt, kann Marx das Geld den ‚Gott der Waren‘ nennen. Der absolute Sinn des ganzen Systems besteht darin, dass aus Geld mehr Geld gemacht wird; Geld ist die absolute, alle Loyalitäten und Abhängigkeiten bündelnde Triebfeder des Handelns. Die Vokabel ‚Gott‘ ist zutreffend; denn in ‚Gott‘ als absolutem und nicht hinterfragbarem Bezugspunkt konvergieren alle Loyalitäts und Abhängigkeitsverhältnisse der jeweiligen Gesellschaft, und diese Rolle spielt im Kapitalismus das Geld…“

Es geht also nicht nur um einen Kapitalismus, der sich „auf dem Christentum parasitär im Abendland entwickelt“ hat, wie Walter Benjamin meint, sondern um eine im Sinne Luckmanns „unsichtbare Religion“, eine verschleierte „Reichsreligion“, die global herrschende Religion, die freilich – wie die Reichsreligion im Römischen Imperium – eine Reihe von Kulten – unter anderem auch das Christentum – duldet, solange diese seine Herrschaft nicht in Frage stellen.

Wir brauchen uns keinem Kultbild zu beugen, wie es im Buch Daniel erzählt wird, sondern wir sind längst schon dabei, nach den Flöten und Schalmeien der Reichsreligion zu tanzen.

(Folie 8: Stierbild)

These 4: Der goldene Stier ist aufgerichtet. Wir bewegen uns schon im Tanz um das „goldene Kalb“.

Wie im ersten Testament gibt es den Übergang von der verschleierten, anonymen Gottesvorstellung der Religion zum Symbol eines naturwüchsigen Fruchtbarkeitskults, dem Stier.

Jeden Abend vor oder innerhalb der Tagesschau wird dieser Kult zelebriert, dieses erste Bekenntnis zur „Reichsreligion“ gesprochen. Wie reagieren „die Märkte“ auf unsere Opfer?

[Eigentlich stehen in Frankfurt vor der Börse zwei Tiere: Der Stier mit kräftig ausgebildeten Fruchtbarkeitsinsignien steht für die Hausse, das Ansteigen der Kurse, der etwas pummelige, an der Erde schnüffelnde Bär steht für die Baisse, das Fallen der Kurse. Wer aber den Wirtschaftsteil, die Nachrichten verfolgt, wird meist den Stier erleben, selbst wenn die Kurse in den Keller gehen.

Ursprünglich war die Börse ein Institut zur Beschaffung von Liquidität (d.h. um die Zahlungsfähigkeit eines Unternehmens abzusichern) und seinen Wert im Vergleich zu anderen Unternehmen auszuweisen. Aber schon früh – an der Architektur der Gebäude ablesbar – wurden aus den Börsen Tempel, in denen die Ubiquität, die Virtualität und die Allmacht des Geldes durch eine eigene Priesterkaste (z.B. die Analysten, die Broker und die Rating-Agenturen) gefeiert wird. ]

Die Botschaft, die uns jeden Abend ins Haus gebracht wird, ist eindeutig: „Geld kann sich selbst vermehren, ohne Arbeit, ohne eigene Anstrengung. Man braucht nur einen Computer, der gespickt ist mit mathematischen Formeln, etwas Glück, etwas Geschick und den Glauben an die heiligen Gesetze des Marktes.

(Folie 9: Fruchtbarkeit des Geldes: Löwen)

Wir können das vergleichen mit er alten aristotelischen Unterscheidung von „Geldvermehrungswirtschaft“ und „Haushaltungswirtschaft“ (Oikonomie). Die Geldvermehrungswirtschaft hat ihren deutlichsten Ausdruck im Begriff des shareholdervalue gefunden, der vollkommenen Abhängigkeit der Wirtschaftsunternehmen von den Renditeerwartungen der Aktionäre. Dies hat sich im gegenwärtigen Finanzmarktkapitalismus in den 90er Jahren entwickelt, unterstützt durch die Deregulierungsmechanismen, mit denen die Politiker ihre Macht den „Finanzmärkten“ übergeben haben.

Mit Franz. J. Hinkelammert ist von einem „zynischen Kapitalismus“ zu sprechen, dessen Dogmengebäude nicht mehr mit moralischen Vorstellungen beizukommen ist, weil er außerhalb jeder moralischen Logik funktioniert.

Ton Veerkamp findet diese zynische Form des Kapitalismus schon in den Theorien des Ökonomen Schumpeter. Für ihn gelte: „Arbeitslosigkeit ist also keine ernste Angelegenheit für das System…solange die Kosten, die sie möglicherweise verursachen, von der Gesellschaft und nicht von den Unternehmen getragen werden. Wir haben uns an die Arbeitslosigkeit gewöhnt, so wie wir uns an die auseinanderklaffende Schere von Reich und Arm gewöhnt haben.

Als wir in Bad Hersfeld die Bürgerinitiative „Jugendwerkstatt“ gründeten, lag die Arbeitslosigkeit bei 7,3 % und wir meinten, wir könnten mit unseren Anstrengungen die Jugendarbeitslosigkeit verringern, ja zum Verschwinden bringen. Heute, nach fast 30 Jahren liegt die Arbeitslosigkeit immer noch bei offiziell 3,5 Millionen. Die Jugendwerkstatt ist eine Einrichtung des Diakonischen Werks geworden, von staatlichen Geldern abhängig, als Verwaltungsstelle von Jugendarbeitslosigkeit die letzte Institution bei der Selektion derjenigen, die ins endgültige Aus geschickt werden.

Für die Börse hat Arbeitslosigkeit einen durchaus positiven Effekt, wie wir wissen. Der Börsenwert eines Unternehmens steigt, wenn Menschen entlassen werden, um ihre Arbeitskraft, zumeist das einzige, das sie auf dem Markt anbieten können, dem zynischen Spiel von Angebot und Nachfrage erneut anzuvertrauen.

(Folie 10: Sündenfall)

These 5:

Alle Sünde kann dem Menschen vergeben werden. Aber die Sünde gegen den heiligen Markt wird ihm nicht vergeben.

Der religiöse Alltag ebenso wie der immerwährende Sonntag wird in der Religion des neoliberalen Kapitalismus durch den „Markt“ bestimmt. Ihm wird der Mensch vollkommen untergeordnet. Ganze Seiten werden in Zeitschriften gefüllt, Bücher um Bücher produziert und gekauft, in denen Menschen Tipps erhalten, wie sie ihren „Marktpreis“ („Marktwert“) verbessern. Der Mensch ist das wert, was er auf dem Markt als Preis erzielt. Ein bezeichnendes Beispiel lieferte Hans Werner Sinn, als er schrieb: „So wie der Apfelpreis um so niedriger sein muss, je größer die Apfelernte ist, damit alle Äpfel ihre Abnehmer finden, muss auch er Lohn der Arbeitnehmer…um so niedriger sein, je mehr es von ihnen gibt, damit keine Arbeitslosigkeit entsteht. Noch einmal sei auch hier wiederholt, dass dem Gesetz der Nachfrage keine moralische Qualität (oder soziale) innewohnt. Das ist eine bloße Beschreibung der Funktionsweise der Marktwirtschaft, die man akzeptieren muss… Es (das Gesetz von Angebot und Nachfrage) gehört zu den fast naturgesetzlichen Gegebenheiten dieser Welt, mit denen man sich abfinden muss, ob man sie mag oder nicht.“

(Folie: 11:Werbung in eigener Sache)

Das Zitat ist in zweierlei Hinsicht sprechend. Auf der einen Seite wird hier von der „Demut“ vor der „unsichtbaren Hand“ gesprochen, die einer der Väter des neoliberalen Kapitalismus mit der „Hand Gottes“ gleichsetzt.

Auf der anderen Seite kennen wir aus Erfahrung die vielen Äpfelbäume in unseren Gärten, deren Früchte massenweise am Boden verfaulen, weil sie gar nicht erst auf den Markt kommen. Die Ausgegrenzten sind außerhalb des Blickfeldes der Ökonomen. Es bildet sich nicht nur eine breite Unterklasse in der Gesellschaft, deren Funktion es ist, die Angst derjenigen zu verstärken, die „noch“ dem „Gebot“ von Angebot und Nachfrage genügen, die Lohnabschläge in Kauf nehmen und immer schärfere Arbeitsbedingungen auf sich nehmen müssen.

These 6: Heilig heilig ist das Privateigentum. Seine Gnade sichert unsere Welt.

Das Bekenntnis zum Privateigentum ist ein unhinterfragbares Dogma in der Religion des Kapitalismus. In der Überführung aller öffentlichen, ja sogar der natürlichen Ressourcen liegt alles Heil. Städtische Wohnungen werden an US-amerikanische Steuerhinterzieher cross-border geleast, um den öffentlichen Haushalt zu sanieren, der wiederum in Überschuldung geriet, weil Kredite aufgenommen wurden, durch die wiederum Privateigentümer über Zins und Zinseszins Kapital ansammeln konnten. Auch hier wieder ein grundlegendes Zitat, von dem aus wir verstehen, weshalb die Sozialpflichtigkeit des Eigentums im neoliberalen Kapitalismus mehr und mehr zurückgedrängt wird. Es steht im Buch von Ulrich Duchrow und Franz J. Hinkelammert „Leben ist mehr als Kapital. Sie zitieren v. Hayek:

„Eine freie Gesellschaft braucht Moral, die sich in letzter Instanz auf die Erhaltung von Leben reduziert: nicht Erhaltung allen Lebens; denn es könnte notwendig sein, individuelles Leben zu opfern, um eine größere Zahl anderer Leben zu retten. Daher sind die einzigen Regeln der Moral diejenigen, die zu einem ‚Kalkül des Lebens‘ führen: Das Eigentum und der Vertrag.“

Eigentum bedeutet selbstverständlich auch die Unantastbarkeit des Kapitals, dessen Vermehrungs- und damit Machtmöglichkeiten nicht in Frage gestellt werden dürfen. Wir können uns das vielleicht einmal daran vergegenwärtigen, was heute ein großes Vermögen bedeutet.

(Folie 12: Münchener Kirchtürme)

Nehmen wir als einfaches Beispiel einen der Gebrüder Aldi. Er besitzt – nach der Liste des US-Magazins Forbes – ca. 30 Milliarden € - (natürlich eine geschätzte Summe, da wir im Gegensatz zum Armutsbericht keinen Reichtumsbericht kennen). Damit wir uns das vorstellen können, müssen wir ein Bild zur Hilfe nehmen. Wenn wir 500,--€-Scheine übereinanderstapeln würden, so wäre 1 Million € ein Stapel von ca 20 cm. Bei 1 Milliarde € würden sich die Geldscheine bis zu einer Höhe stapeln, der zweimal die Türme der Münchener Frauenkirche entspräche. 30,-- Milliarden entsprächen also einer Höhe von zwei Türmen, die 30 mal höher wäre als die Münchner Frauenkirche. Wir können uns also eine Vorstellung von den Schulden machen, die die EU zur Zeit als Garantiemöglichkeit in Kauf nimmt, um Griechenland, um den Euro vor den Angriffen der Spekulanten zu retten.

(Rettungspaket der EU und des IWF: 750 Milliarden €: Eine dreiviertel Billion)

Harald Wozniewski (www.dr-wo.de) hat nach der Vermögenstabelle der Zeitschrift „manager-magazin“ einmal die Stundenlöhne berechnet, die auf das Vermögen der 50 reichsten Deutschen im Jahre 2002 kämen. Reinhard Mohn vom Bertelsmann-Verlag, der damals an 6. Stelle stand, käme demnach auf einen Stundenlohn von 159 681, 76 €

Kann ein Mensch so viel verdienen? Und was macht er mit dem Geld, das er gar nicht konsumieren kann? Er setzt es um in Spekulation oder in Macht. Geld ist Macht. Die Lobbyarbeit im Bundestag hat sich seit dem Umzug nach Berlin mindestens verzehnfacht.

Einige Parteien fordern einen Mindestlohn. Ist es nicht an der Zeit einen Höchstlohn, die Begrenzung von Einkommen zu fordern?

Bei diesen Summen ist es kein Wunder, dass die Sozialpflichtigkeit aus dem Entwurf zur europäischen Verfassung verschwunden ist. Man kann das ja durch Mäzenatentum ersetzen, wie dies Bill Gates mit großem Erfolg betreibt. Die Religion des Kapitalismus setzt auf eine Gnadenordnung, nicht auf eine Rechtsordnung. Das bekommen Hartz-IV-Empfänger auch tagtäglich zu spüren.

These 7: Alles wird zur Ware, auch der Mensch und die Natur

Die Beschwörungen und Gebete schwellen wieder an. Ein wesentliches Glaubensbekenntnis der Religion des Kapitalismus ist die heilende Kraft von Wachstum und Konsum. Daraus ist eine Warengesellschaft entstanden, die den Menschen selbst zur Ware macht. Heute ist es nicht nur selbstverständlich geworden, seine Arbeitskraft auf dem „Arbeitsmarkt“ verkaufen zu müssen; es ist selbstverständlich geworden, sich selbst zu verkaufen.

Das wird medial ins Bewusstsein gehämmert: „Sei der/die Beste, aber ordne dich unter. Sei ein Individuum, aber gib deinen Willen und deine Persönlichkeitsrechte beim Sender ab, so z.B. bei Pro Sieben, wenn man „Germany’s next topmodel“ werden will. In den Vordrucken der einzureichenden Bewerbungsunterlagen ist eine „Einverständniserklärung“ enthalten. Darin soll die Bewerberin (die) „an den angefertigten Ton- und/oder Bildaufnahmen und an jeder daraus resultierenden Fernseh- oder sonstigen Produktion,… alle Nutzungs-, Leistungsschutz-, Persönlichkeits- oder sonstigen Rechte (…) einschließlich des Rechts am eigene Bild sowie des Namenschutzes und allen Nutzungsrechten hieran ausschließlich“ den Show-Produzenten einräumen. Zu Deutsch: Die vorrangige Eigenschaft, die hier gesucht wird, ist die Leibeigenschaft – selbstverständlich ohne Lohn… Der Vergleich mit prekär Beschäftigten liegt nahe.“

Schließlich wird auch die Natur zur Ware. In Indien werden Teile von Flüssen in Privateigentum überführt, aus denen sich die Bevölkerung mit Wasser versorgt hatte. Sie werden eingezäunt und zur Wasserentnahme von Firmen benutzt. Die Menschen müssen sich das Wasser in Flaschen abgefüllt kaufen. Hier gilt das Wort: Eigentum ist Diebstahl.

Diese Warengesellschaft entwickelt ihren eigenen Kult, wie wir an den Verkaufsstrategien und sogar an der Architektur von Warenhäusern, Wirtschaftsunternehmen und Banken erkennen können. Kult-Marketing nennt das der Trendforscher Bosshard, der dem Kapitalismus bescheinigt, die letzte, die endgültige Religion zu sein.

These 8: Narzistischer Individiualismus und Privatisierung sind das Opium in der Religion des Kapitalismus.

(Folien 13, 14, 15, 16: frei, Kraft, Lust. Glaube)

Das Ideal der Religion des Kapitalismus ist der flexible, der aus seinen Bindungen befreite Mensch, der „selbstverantwortlich“ handelt, auch wenn sein Handeln z.B. durch Arbeitslosigkeit fremdbestimmt ist, auch wenn er von Kindheit an auf die Nachrichten der „Einsager“ aus Werbung und Medien getrimmt wird. Und schließlich durch die Hingabe an die Warenwelt. Es ist eine Welt der Vereinzelung, so wie dies in einer Werbung für eine Zigarettenmarke dargestellt wird, in der vier wesentlich Werte des narzistischen Individuums verbildlicht und religiös präsentiert werden: Frei, kraft, lust und glaube. Die Menschen auf diesen Bildern agieren einsam, auf sich selbst bezogen.

Unser Freund und Genosse aus ‚El Salvador, Pater Jerry Pöter sagte einmal: Wenn ich hier in der Kirche das Vaterunser höre, dann scheint es als bete jeder für sich: „Mein Vater im Himmel.“ Das solidarische „Unser“ ist nur noch Formel. Mein Nächster ist nicht mehr die personale Ergänzung meines Selbst, er gehört nicht zur „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Karl Marx). Der andere ist Konkurrent, die Gesellschaft wird gespalten in „winner“ und „loser“.

Die Opfer des kapitalistischen religiösen Systems werden ausgeschlossen. Ja, man hetzt sie gegeneinander auf. Denn – so formuliert es Ton Veerkamp – „sie sollen nicht begreifen, wer wirklich ihre Gesellschaft zerstört. Salbungsvoll beschwören die neoliberalen Politiker aller Schattierungen die Achtung der westlichen ‚Werte‘, stattdessen haben sie das Geldmachen rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, zum Grundwert gemacht und wundern sich darüber, dass die, die sie aus der gesellschaftlichen Kooperation ausgeschlossen haben, sich auf sich selbst zurückziehen und sich Erzählungen widmen, die andere nicht mehr verstehen können.“ (S. 229)

Die biblische Frage nach dem „kairos“und nach den Visionen von einer zukünftigen Zeit, wie sie mit dem Wort von der „basileia tou theou“, der Konigsherrschaft Gottes, oder wie Luise Schottroff übersetzt, der „gerechten Welt Gottes“, sie spielen keine Rolle, werden auch nicht mehr verstanden. Im Übrigen richtet sich die Kirche auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten ein. wird „Kirche am Markt“. Die private Ausrichtung von „Mein Glaube“, „Mein Gott“, „Mein Herr Jesus“ hat der Widerständigkeit der biblischen Schriften längst die Zähne gezogen. Kirche im Kapitalismus ist „embedded church“, in die Reichsreligion des Kapitalismus eingebettete Kirche.

Individualismus heißt: Die Großen Erzählungen bieten keine Orientierung mehr. Ich verlasse mich auf die „kleinen Erzählungen“, die die Warenwelt mir bietet.

These 9: Die Religion des Kapitalismus zerstört die Demokratie.

(Folie 17: Demokratie)

Die Religion des Kapitalismus fügt den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative neue inoffizielle Gewalten hinzu. Die institutionell festgelegten Aufgaben, die das Volk seinem Ausschuss, dem Staat, übergibt, werden unterlaufen durch die Macht von Medien. Diese werden wiederum wirtschaftlich kontrolliert durch die Macht der globalisierten Finanzmärkte, die mit ihrer überschießenden, keine Investitionsmöglichkeiten mehr finden. Sie weichen mit ihren Geldmengen in Spekulationen und überdimensionierte Renditeerwartungen aus und treiben auf diese Weise Staaten in den Ruin. Seit 1974, als die Devisenbewirtschaftung aufgegeben wurde und besonders im letzten Jahrzehnt des letzten und im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts haben die gewählten „Ausschussmitglieder“ der Völker, die politische Elite, die in den Parlamenten und Regierungen sitzen, den Akteuren auf den Finanzmärkten alle Instrumente in die Hand gegeben, um ihre Macht der „Finanzmärkte“ zu stärken. So ist der Beitrag der Vermögenden für die Gesellschaft in der sie leben, ständig gesunken. Und die Steuerlast der „Ohnmächtigen“ stieg.

Von Gerechtigkeit im biblischen Sinn, die die „Option für die Armen“ einbezieht gibt es – jedenfalls in den entwickelten Ländern – noch einen Ort der Almosen, der häufig von den Kirchen betrieben wird. Die strukturelle Sünde, deren Ursache die Religion des Kapitalismus ist, ist nicht einmal Thema eines Gebets.

(Folie 18: Ordensleute für den Frieden)

Es sind kleine Gruppen am Rande der Kirchen, wie zum Beispiel die „Ordensleute für den Frieden), in denen sich Widerstand formiert, damit der Mensch aus einer Nebensache wieder zu seiner eigenen Würde kommt, damit eines Tages die Verhältnisse umgeworfen werden können, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“ (Karl Marx)

Solche kleinen Gruppen in den Grauzonen der Kirchen sind Orte, an denen die Praxis der Augen, die Praxis der Hände und die Praxis der Füße geübt wird.

Hartmut Futterlieb
Mai 2010