1. Sowohl für einen Christen wie für einen Marxisten kann über (das
biblische) Israel und Judentum nur kontextuell gedacht werden: Es
handelt sich hier um ein konkretes historisches ‚Datum’, nicht um eine ‚Idee’
oder eine Metapher, die von diesem ‚Datum’, dem real existierenden Judentum,
abstrahiert werden kann.
2. Für einen Christen bedeutet dies, dass Israel in der Gestalt des
Judentums uns ‚gegeben’ ist als das Menschenvolk, womit wir ‚unaufgebbar
verbunden’ sind: Wir sind zur Solidarität verpflichtet, dazu berufen, dafür zu
sorgen, dass Recht und Frieden immer Recht und Frieden für die Juden
einschließt.
3. Für einem Marxisten bedeutet dies, Handel und Wandel der Juden zu
beurteilen im Wissen, dass sie, wie alle andere Menschen auch, Geschichte
machen unter von ihnen selbst nicht gemachten Bedingungen, Bedingungen, die für
sie nahezu immer sehr ungünstig gewesen sind: Ihre Geschichte muss ‚von unten’
gesehen werden.
4. Diese Geschichte sieht von unten besehen im Grossen und Ganzen so aus:
Für die Juden gab es in der Völkerwelt (biblisch gesprochen in der Welt der
Gojim) keinen Ort. Sie sind das utopische Volk schlechthin, eines der wenigen
Völker, die mit totaler Ausrottung bedroht worden sind.
5. Diese Leidensgeschichte, die ihresgleichen nicht kennt, ist im
besonderen die Schuld der Christenheit. Es war das christliche Europa, wo der
Judenhass äußerst virulent geworden ist: ausgerechnet dort also, wo die Juden
hätten sicher sein müssen! Schuldgefühle darüber sind also ‚objektiv’ begründet
und kein Sentiment, das der Solidarität mit den Palästinensern im Wege steht
und deshalb überwunden werden muss.
6. Wir Christen sind also die Letzten, die im Hinblick auf das Projekt
eines jüdischen Staates – durch welchen die Juden ‚in der noch nicht erlösten
Welt ... nach dem Maße menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter
Androhung und Ausübung von Gewalt’ für ihren Frieden und Recht zu sorgen hatten
(Barmer These 5) – tun dürfen, ‚als wäre nichts geschehen’, indem wir den
Israelisch-Palästinischen Konflikt einfach, allzu einfach zu einem Kampf
zwischen Unterdrückern und Unterdrückten ‚idealisieren’.
7. Im Gegenteil, wir sollten bedenken
- dass die Geschichte die Juden gelehrt hat, dass sie, wenn es darauf
ankommt, nur auf sich selbst vertrauen können;
- dass sie mit anderen Worten das begründete Bewusstsein mit sich tragen,
immer wieder Opfer werden zu können;
- dass dieser ‚unsympathische’ Jude, der sich vorgenommen hat, sich nie wieder
opfern zu lassen (Sharon ist dessen pervertierte Gestalt), das Ergebnis einer
Geschichte ist, die wir, nicht fähig mit ihnen zu sympathisieren, gemacht
haben;
- dass darum unser Beitrag zu einer friedlichen Lösung dieses Konflikts an
erster Stelle darin besteht, den Juden klarzumachen, dass unsere Kritik an der
israelischen Regierung von dem tief in unserer Kultur verwurzelten
Antijudaismus frei ist. Das Problem ist aber, dass wir von ihm nicht frei sind:
Der Antijudaismus steckt tief in uns selbst – so tief, dass wir uns dessen gar
nicht bewusst sind. Anders würden wir nicht auf die Idee kommen, das Leiden der
Palästinenser bzw. das Handeln der Regierung Sharon als einen ‚Holocaust’
vorzustellen, oder, wie der Schriftsteller Breytenbach das tat, in einem
offenen Brief das Israelische Volk wegen der Politik seiner Regierung ein
‚Herrenvolk’ zu nennen.
8. Anders gesagt: die Kritik an der Politik des Staates Israel kann nicht
sachlich genug formuliert werden, eher etwas zu sachlich als etwas zu pathetisch.
9. Wir müssen bei diesem Konflikt zwischen Israel und dem Palästinensischen
Volk auch gut realisieren, dass wir in diesem Konflikt mit einem fatalen Kreis
zu tun haben, der keinen Ausweg bietet. Die Lösung liegt dann vielleicht eher
in einer Friedensbewegung – sowohl in Israel wie in Palästina – als in einem
Bestehen auf seinem Recht, das die Gewaltspirale nur am Drehen hält. Und ein
Verständnis für Selbstmordkommandos, das den Eindruck erweckt, mit ihnen zu
sympathisieren, ist schrecklich kontraproduktiv.
10. Zum Schluss: ich vermute es gibt einen Zusammenhang zwischen dem bei
vielen linken Christen (und Nicht-Christen) zu beobachtenden Unverständnis für
den real existierenden Sozialismus und dem Unverständnis für das real
existierenden Judentum. Ein Unverständnis, das sowohl mit einem Mangel an
biblischen Realismus (Fixierung auf Exodus, vorbeisehen an den ‚früheren
Propheten’: Josua bis zum 2 Könige) als mit einem Mangel an
historisch-materialistischen Bewusstsein zu tun hat.
Ursprüngliche niederländische Fassung 30. Januar 2003