Der italienische Befreiungstheologe Giulio Girardi ist am 26. Februar - 3 Tage nach seinem 86. Geburtstag - in Rocca di Papa in der Nähe von Rom gestorben. Er war u. a. Konzilsberater, einer der Pioniere des christlich-marxistischen Dialogs, Mitbegründer der "Christen für den Sozialismus" und Partner der lateinamerikanischen Befreiungstheologen. Auch die AKC hatte in den 1970er Jahren Kontakt zu Giulio Girardi - er war u. a. Hauptreferent beim Kongress "Christen und Sozialisten für eine neue Gesellschaft" (Innsbruck, 15. - 19. 6. 1977. Veranstaltet von AKC und Junge Generation in der SPÖ) und Autor in "KC". (Nr. 10/77 und 12/77).

Giulio Girardi wurde am 23. 2. 1926 in Kairo als Sohn eines italienischen Vaters und einer syrisch-libanesischen Mutter geboren und verbrachte seine Kindheit in Paris, Beirut und Alexandria. 1941 übersiedelte die Familie nach Italien, wo Giulio in den Salesianerorden eintrat und von 1944 bis 1950 an der Philosophischen Fakultät der Salesianer in Turin studierte. Darauf folgte ein Theologiestudium an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. 1955 wurde Giulio Girardi zum Priester geweiht. Schon ab 1953 unterrichte er Metaphysik an der Salesianer-Fakultät in Turin, ab 1960 (bis 1969) war er dann Professor an der Salesianer-Universität in Rom. Während des 2. Vatikanischen Konzils (1962 - 1965) war er Berater des von Kardinal König geleiteten vatikanischen Sekretariats für die Nichtglaubenden und in dieser Funktion einer der Redakteure der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" (Über die Kirche in der Welt von heute). Von 1962 bis 1971 leitete er außerdem ein internationales Forschungsprojekt über den zeitgenössischen Atheismus. Ab 1965 war Girardi im internationalen Dialog Christentum - Marxismus im Rahmen der Paulus-Gesellschaft engagiert (außerdem gehörte er Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre dem Internationalen Redaktionsbeirat des "Neuen Forum" an - in diesem Zusammenhang habe ich ihn auch persönlich kennenlernen dürfen).

1966 erschien sein grundlegendes Werk "Marxismus und Christentum", zu dem Kardinal König das Vorwort schrieb. In den darauf folgenden Jahren kam Girardi wegen seiner Annäherung an den Marxismus aber zunehmend in Konflikt mit dem Vatikan und der Führung des Salesianerordens. Ein erster Höhepunkt war 1969 seine Entlassung von der Salesianer-Universität in Rom - wegen "ideologische Divergenzen". Er bekam aber eine Stelle an der der französischen Bischofskonferenz unterstehenden katholischen Universität von Paris (Institut Catholique), wo er Einführungskurse in den Marxismus gab. Im gleichen Jahr veröffentlichte Girardi ein weiteres wichtiges Werk: "Glaubende und Nicht-Glaubende für eine Neue Welt", 1971 "Christentum, menschliche Befreiung, Klassenkampf".

1972 unternahm Giulio Girardi seine erste Lateinamerikareise, im Rahmen derer er im April auch an der ersten Lateinamerikanischen Versammlung der "Christen für den Sozialismus" in Santiago de Chile teilnahm. Auf seine Initiative wurde dann auch in Europa eine kontinentale Bewegung ins Leben gerufen, die allerdings auf eher kleine nationale Mitgliedsgruppen beschränkt blieb. Vom Juli bis September 1972 unternahm Girardi seine zweite Lateinamerikareise, die ihn nach Chile, Peru, Kolumbien, Mexiko und Kuba führte, und bei der er seine Beziehungen zu Befreiungstheologen und anderen politisch linken Kräften vertiefte (u. a. kam er auch mit Fidel Castro zusammen, den er später noch mehrmals traf).

1973 verlor Girardi auch seinen Posten in Paris, konnte aber an dem von Jesuiten geleiteten internationalen Ausbildungszentrum Lumen Vitae in Brüssel einen einjährigen Einführungskurs halten. Da er 1974 keine neue Aufgabe erhielt, ging er nach Turin und engagierte sich dort in der Bildungsarbeit der Metallarbeitergewerkschaft. Dies wurde jedoch von seinem Orden nicht akzeptiert. Unter Berufung auf das Gehorsamsgelübde wurde Girardi zur Rückkehr ins Mutterhaus des Ordens aufgefordert. Er verwies auf seinen Dreijahresvertrag, den er einhalten wolle. Nach zweifacher Ermahnung wurde Giulio Girardi am 10. Mai 1977 aus dem Orden der Salesianer Don Boscos ausgeschlossen und auch seiner priesterlichen Funktionen enthoben. In einer öffentlichen Erklärung stellte Girardi klar, dass es bei seinem Konflikt mit dem Orden und dem Vatikan nicht um die "kirchliche und religiöse Disziplin" ging: "Die wahren Probleme waren andere. Sie entstanden für mich, als ich begann, mir der politischen Solidaritäten bewusst zu werden, die sich hinter unserer ‚Neutralität' als Ordensleute und Intellektuelle versteckten. Als ich zu verstehen begann, dass die Kirche und der Orden, zu dem ich gehörte, sich tiefgehend, wenn auch oft unbewusst mit der westlichen Zivilisation identifiziert, die zwar christlich genannt wird, aber von der kapitalistischen Ausbeutung beherrscht wird; als ich ahnte, dass die offizielle kirchliche Lehre, selbst in ihren spirituellsten Ansichten tatsächlich eine Rolle der Legitimation der Unterdrückung und der Verschleierung der Klassenkonflikte spielt; als sich mir der Antikommunismus als eine gegen die Arbeiter und gegen das Volk gerichtete Verwendung des Evangeliums offenbarte."

Beim von der AKC mitveranstalteten Kongress "Christen und Sozialisten für eine neue Gesellschaft" (Innsbruck, 15. - 19. Juni 1977), bei dem Giulio Girardi ein Hauptreferat hielt, beschlossen die Teilnehmer eine Solidaritätserklärung, in der es u. a. hieß: "Wir möchten Pater Girardi in dieser schweren Stunde seines Kampfes unsere Solidarität ausdrücken. Mit unserer Solidarität verbinden wir zugleich unsere Hoffnung, dass durch unser Engagement und das Engagement anderer fortschrittlicher Kräfte die Gesellschaft so verändert werde, dass es Menschen wie ihm möglich wird, ihren totalen Einsatz für die Mitmenschen zu leisten, ohne selbst Opfer der Unterdrückung zu werden."

1977/78 unterrichtete Girardi Philosophie an der Universität Lecce, ab 1978 (bis zu seiner Pensionierung 1996 war er Professor für politische Philosophie an der Universität Sassari auf Sardinien.

1980 - im Jahr nach dem Sieg der sandinistischen Revolution in Nicaragua - reiste Giulio Girardi erstmals in dieses zentralamerikanische Land. Daraus ergab sich eine langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit, insbesondere mit dem Centro Ecumenico Antonio Valdivieso in Managua, einem Zentrum der Befreiungstheologie und der Volkskirche, in dessen Rahmen er mehrere Studien veröffentlichte (bis 1999). Besonders hervorzuheben ist das Buch "Sandinismo, marxismo, cristianismo en la nueva Nicaragua: La confluencia" (Managua 1986), also "Die Vereinigung von Sandinismus, Marxismus und Christentum im neuen Nicaragua". Im Jahre 1990 wurde Girardi von der Sandinistischen Befreiungsfront mit dem "Orden Carlos Fonseca" ausgezeichnet. Von 1986 bis 1999 arbeitete er auch auf Kuba mit mehreren Kulturorganisationen sowie der Evangelischen Kirche zusammen. Darüber hinaus war er in den 1990er Jahren noch in mehreren Kooperationsprojekten - insbesondere bezüglich indigener Bevölkerungen - in Mexiko, Ecuador und Bolivien engagiert. 1999 und 2000 besuchte Girardi Brasilien, wo er mehrere Treffen mit Basisgemeinden, Befreiungstheologen, Pastoralarbeitern und der Bewegung der Landlosen hatte.

Die intensive Beschäftigung mit Lateinamerika war aber auch mit einer vertieften Analyse der globalen Probleme verbunden - vor allem der zunehmend aggressiven imperialistischen Politik der USA unter Ronald Reagan sowie mit der katholischen (politischen und dogmatischen) Restauration unter Johannes Paul II. und Kardinal Joseph Ratzinger. 1986 erschien sein Werk "La tunica lacerata" (1991 auf spanisch: "La túnica rasgada" - "Die zerrissene Tunica", Untertitel: "Christliche Identität zwischen Befreiung und Restauration"; leider ist das Buch aber nicht auf deutsch erschienen), in dem er den Zusammenhang zwischen der imperialistischen Restauration unter Reagan und der katholischen Restauration unter dem Wojtyla-Papst herausarbeitete. "Die katholische Kirche im Dienste des Imperiums", war seine kurzgefasste Schlussfolgerung.

Zu den letzten öffentlichen Aktionen, für die sich Giulio Girardi - gemeinsam mit anderen Theologen - engagiert hat, zählte eine Erklärung gegen die Seligsprechung von Papst Johannes Paul II. Anfang Dezember 2005. Als Argument gegen die Seligsprechung führten die Theologen die Verurteilung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie sowie die Duldung der Militärdiktaturen durch den Wojtyla-Papst an. Auch hätten dessen konservative Haltung zur exualmoral und zum Priesterzölibat sowie sein Umgang mit dem Finanzskandal der Vatikanbank IOR nicht den Kriterien eines "heiligmäßigen" Lebens entsprochen.

Der spanische Theologieprofessor Juan José Tamayo (auch Präsident der Theologenvereinigung "Johannes XXIII.") schrieb in einem Nachruf in "El País" (29. 2. 12), Girardi habe als Konzilsberater dazu beigetragen, dass sich das "kirchliche Paradigma von einer Kirche als Richterin über die Welt hin zu einer Kirche, die solidarisch ist mit den Freuden, der Trauer und den Hoffnungen der Männer und Frauen", verändert hat. Und durch seine inhaltlichen Beiträge zum Atheismus, die in den Dokumenten des II. Vaticanums Niederschlag gefunden haben, habe er "mitgearbeitet am Wandel der Einstellung der Kirche: vom Bannfluch zum Dialog."

Giulio Girardi hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht, die meisten davon in italienischer und spanischer Sprache. Doch nicht nur seine schriftlichen Werke, sondern sein gesamtes Leben und Wirken waren und bleiben ein Zeichen für eine andere, eine solidarische Kirche, eine Kirche in und mit den Befreiungskämpfen der unterdrückten Völker und Menschen.

Adalbert Krims