Neujahrsbrief 2013

Wir hatten am Anfang des vergangenen Jahres weniger Schülerinnen und Schüler als vorher. Was waren die Gründe? Die Eltern wagen nicht, ihre Kinder auf den Weg zu schicken. Deshalb hatten wir plötzlich einen guten Erfolg als wir eine Schulklasse genau in dem Armenviertel einrichteten, wo Mütter die Schule und ihre Kinder in Sichtweite hatten. Das Thema der Maras hat uns in diesem Jahr wieder begleitet und erschreckt. Weder Schulen noch Kindertagesstätte waren zwar direkt nicht betroffen, aber die Angst ist allgegenwärtig. Gestern erzählte mir noch eine Lehrerin, dass Jugendliche von der Mara nun von uns renta, eine Art von Steuer, verlangen. Der Nucleo hat beschlossen, wegen der Drohung, die sie impliziert, die Steuer zu bezahlen. Alle sind sich bewusst, dass dies eine sehr problematische Entscheidung war. Auch sonst dürfen wir nicht jammern und klagen, da sie uns bisher weitgehend in Ruhe gelassen haben.

Der Militärbischof hat zusammen mit einem ehemaligen Guerrillakommandanten Verhandlungen organisiert. Die Gewalt ist durch einen Vertrag mit den Maras reduziert worden. Zwei große Jugendbanden töten sich nun nicht mehr gegenseitig. Die katholische Kirche hat viel Prestige bekommen. Einige sind besorgt, was das für einen Rechtsstaat bedeutet, dass mit Kriminellen verhandelt und "Verträge" geschlossen werden. Zurzeit ist eine weitere Initiative im Gespräch. Es sollen 10 Orte ausgesucht werden, in der die Polizei nicht agieren soll. Gegenleistung von Seiten der Maras wäre, sich nicht weiterhin gegenseitig umzubringen. Der Staat verpflichtet sich, die Situation in den Gefängnissen zu verbessern...

Nur noch wenige Kinder aus der alten 22 kommen zu uns in die Schule. Niemand will arm sein und auch nicht arm erscheinen. Es werden symbolische Pluspunkte gesucht und dringend gebraucht. Unsere Schule taugt dafür aber nicht. Nicht nur bei uns gibt es in den Schulklassen Kinder aus "Marafamilien". Das Phänomen ist allgegenwärtig. Aber wir haben dieses Image. Wir haben einen bitteren Preis bezahlt dafür, dass wir niemanden draußen vor der Tür gelassen haben.

Aber die Schule ist nicht unser einziges Erziehungsprojekt. Sie wird ergänzt durch die Kindertagesstätte und zwei Schulen unter freiem Himmel. Ich war in diesen Tagen bei einem Fest, das Lehrer und Lehrerinnen der Schule unter Freiem Himmel im Sektor 1 gestaltet haben. Viele Mütter, junge Frauen und viele Kinder im Vorschulalter stellten sich ein. Ich war überrascht von der Fülle. Alle waren festlich gekleidet. Die Kinder spielten mit den Angeboten von manualidades (Handarbeiten).

In diesem Jahr sind wir gereist und haben die Schule unter freiem Himmel an verschiedenen Orten des Landes angeboten. Einmal sind Angestellte des Erziehungsministeriums mitgefahren. Ihr Kommentar: Wir hätten viel Geld sparen können, wenn wir die Schule unter Freiem Himmel veranstaltet hätten. Denn hier lernen die Schülerinnen und Schüler durch Aktivitäten, an denen sie mit Begeisterung teilnehmen. Viele Eltern nehmen das Interesse ihrer Kinder an solcher Art von erzieherischer Aktion wahr, aber sie verstehen das als Ablenkung. Die Kinder fragen am Schluss der Veranstaltung, ob unsere Lehrerinnen und Lehrer morgen zurückkommen. Das war und ist immer so.

In der Bibliothek arbeitet ein junger Mann, der seit etwa einem Jahr nicht mehr Dominikaner ist. Er ist kreativ, aktiv und hat gute Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen. Darüber hinaus ist es ihm gelungen, einen Kontakt zum Direktor der staatlichen Schule in der 22 und einer Lehrerin herzustellen, die ebenfalls in der Schule der 22 arbeitet und auch einige Jahre lang Lehrerin bei uns war. Sie ist ganz begeistert von den pädagogischen Möglichkeiten einer Bibliothek. Allerdings kommt sie mit großen Schulklassen und unsere Bibliothek ist ziemlich klein. Aber irgendwie schafft sie es. Vermutlich hat es auch damit zu tun, dass viele den Vormittag gerne zweiteilen, statt die ganze Zeit an demselben Platz zu sitzen, Pausen abgerechnet. Edgar, so heißt unser neuer Mitarbeiter, hat vor einer Woche eine österreichische Professorin der UCA eingeladen, die mit uns eine Übung über einen Text von Simone Weil gemacht hat. Diese Professorin war lange Zeit Assistentin von Johann Baptist Metz in Münster. Metz ist als Vertreter der politischen Theologie bekannt.

In diesen Tagen saß ich vor dem Konventseingang und kam mit einem mittelaltrigen Herrn ins Gespräch. Er ist Salvadorianer, war etwa 20 Jahre in den USA, hat dort gut Englisch gelernt. Ab und zu treffen wir uns nun vor dem Konventseingang. Ich versuche, sein populäres US-Spanisch zu verstehen und selbst einige grammatisch nicht so perfekte Sätze zu sprechen. Es wird ja behauptet, dass alte Menschen ihre zunehmende Vergesslichkeit im Zaum halten können, indem sie eine neue Sprache lernen. Englisch ist für mich zwar keine ganz neue Sprache, aber in der US-Version mir nicht ausreichend bekannt. Wir lernen ja in Europa Britisch in den Schulen. Natürlich gibt es hier junge Leute, die die US-Version perfekt beherrschen.

Vor einigen Monaten erschien hier ein Film im Internet (educacionprohibida) , der wohl vor allem im Süden Lateinamerikas diskutiert wurde. Carlos Somoza (ehemaliger Lehrer unserer Schule) der an der Pädagogischen Universität hier in El Salvador Dozent ist, hat dies zum Anlass genommen, dort eine Veranstaltung zum selben Thema durchzuführen. Es wurde aber eher etwas daraus, was wir hier "convivio" nennen würden. Was ist ein convivio? Es gibt Kaffee und Kuchen, eine kurze Podiumsdiskussion zum Thema, einen Volkstanz, statt langer Vorträge von Dozenten, viele kurze Beiträge der Teilnehmer mit starker Kritik am salvadorianischen Erziehungssystem. Ich glaube, die meisten haben sich bei dieser akademisch sehr unkonventionellen Veranstaltung sehr wohl gefühlt. Die Ideen kamen eher aus dem ambiente popular.

Die Confres (Versammlung der salvadorianischen Ordensleute) veranstaltet mehrere Male im Jahr Foren zu einem bestimmten Thema. Dieses Mal war die Didaktik des Schreibens und Lesens dran. Flor Rodriguez hat den Vortrag gehalten. Sie ist seit langem unsere Lehrerin und theoretische sowie praktische Spezialistin auf diesem Gebiet. Dieses Thema ist nun sehr aktuell geworden, weil das Erziehungsministerium daran interessiert ist, die neuen konstruktivistischen Ideen unter den Lehrerinnen und Lehrern, aber auch in der ganzen Zivilgesellschaft bekannt zu machen. Die Ordensleute waren sehr dankbar für Flors Vortrag. Sie hat die theoretischen Grundlagen vorgestellt, aber auch über praktische Erfahrungen erzählt. Übrigens, Flors Bruder wurde vor kurzem zum Priester geweiht. Er gehört dem Salesianerorden an. Es gab ein großes Fest in der 22 de abril. Der neue Pfarrer ist sehr liturgisch orientiert. Das gefällt den Katholiken. Unsere Eierverkäuferin Zulma hat kirchlich geheiratet. Ich wurde vom Pfarrer eingeladen zu konzelebrieren. (Diese neuen Pfarrer nehmen sich viel Freiheit, die Liturgie zu verändern, bekommen aber damit keine Probleme.) Diese Hochzeitsmesse dauerte mindestens zwei Stunden. Der Schwerpunkt lag auf der Zelebration des Ehesakraments (nicht so sehr auf Predigt und Eucharistie). Eine neue Variante bestand darin, dass die fünf Ehepaare individuell all die Texte, die der Pfarrer vorsprach, nachsagten und sich dabei unaufhörlich in die Augen sehen mussten. Das hat einen großen Eindruck hinterlassen.

Auf der Finca haben wir nun bald den ganzen Kaffee gepflückt. Er wird nun wie gewohnt auf dem Dach des großen Tanks getrocknet bevor die Schale entfernt und der Kaffee geröstet werden kann. Mit den Hühnern hatten wir große Probleme. Sie erkrankten mehrere Male. Die übrig Gebliebenen strengen sich zurzeit an, die Fehler wieder gutzumachen. Die Eier, die wir produzieren, sind in der 22 sehr beliebt. Ana Maria, unsere bisherige Eierverkäuferin, hat aus persönlichen Gründen gekündigt. Sie hat eine sehr gute Arbeit geleistet. Wenn es darum ging, gegen die Goldproduktion in Cabañas zu protestieren, war sie immer dabei. Einer der ökologischen Aktivisten, die dort auf bestialische Weise getötet wurden, war ihr Verwandter. Sie will nun in der Nähe ihrer Kinder sein und ihr Glück mit einem kleinen Laden versuchen.

Zurück zur Finca: Wir waren mit einer kleinen Gruppe auf so etwas wie einem Bauernhof zu Gast, den ein nordamerikanischer Priester betreibt. Learning by doing war angesagt. Unsere Gruppe arbeitete bei den hidroponico-Pflanzungen. Die Pflanzen werden mit Wasser begossen (oder schwimmen in ihm) sowie mit einer zusätzlichen Nähr-Flüssigkeit ernährt. Es sieht so aus als wäre diese hidroponia-Pflanzung die einzige ihrer Art in El Salvador. Gestern haben wir aber auf der Finca die ersten schwimmenden Pflanzen in einer Kiste in kleinen Schwämmen befestigt. Wir hoffen, dass es bald Salat zu essen gibt.

Wir bleiben trotzdem unseren organischen Anbaumethoden treu. Unsere Böden sind im Lauf der Zeit verbessert worden und produzieren zurzeit prächtig Radieschen. Was mich am meisten überzeugt, ist das didaktische Potential der Finca, das wir in den ersten Jahren kaum genutzt haben. Hidroponia führt vor, was eine Pflanze ist, was sie zum Wachsen braucht etc. Der organische Anbau geschieht in einem realeren, natürlicheren Ambiente. Nun kommen sogar die Kinder der Kindertagesstätte zur Finca. Gestern konnte ich beobachten, dass sie in das Pflanzloch für ein Pflänzchen gleich vier oder fünf Samenkörner säen. Aber trotzdem wachsen sie gut.

In diesem Jahr waren unsere Spenderinnen und Spender sehr großzügig. Dafür möchten wir uns an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. Dass Euer Spendengeld wirklich für Projekte der Armen ausgegeben wird, dafür sorgen viele von Euch und hier von uns. Eine Person tut dies besonders: Unsere Buchhalterin und Imkerin Lidia Erazo, die ich heute besonders erwähnen will. Diejenigen unter unseren Spendern, die in diesem Jahr vorigen Jahr gestorben sind, versprechen wir, nicht zu vergessen. Wir denken natuerlich besonders an unsere liebe Freundin und Mitstreiterin Margot Woltering.

Wir denken auch an unseren Freund Wolfgang Mayerl, ein Sympathisant unserer Arbeit und unserer Sorge um die Kinder, interessiert an einer alternativen Form von Paedagogik starb in diesen Tagen ploetzlich. Er ist uns sehr nah und wir teilen den Schmerz seiner Angehoerigen.

jerry