Objektiv gibt es immer weniger Harmonie

von Pater Gerhard Pöter, San Salvador/ El Salvador, den 18. Dezember 2003

Liebe Freundinnen und Freunde,

In der Liste der empfangenen Mails in meinem Computer befinden sich direkt nebeneinander zwei, die mir besonders zu denken geben. Beide stammen von gleichaltrigen jungen Dominikanern, die sich natürlich nicht kennen. Der eine ein Deutscher, der andere ein Salvadorianer, der in Guatemala in einem hachi-Dorf arbeitet. Der deutsche gibt dieses Mal nicht seine Meinung kund, sondern schickt die Kopie eines Zeitungsartikels über ein sehr erfolgreiches Gymnasium, das die Mitbrüder in einer Kleinstadt in Norddeutschland betreiben. (Seit Jahren fällt mir auf, daß es beliebt ist, sich gegenseitig darüber zu informieren, was die Presse oder andere Medien über uns Ordensleute denken. Ein Trost, daß wir wenigstens in den Medien vorkommen, wo doch viele Menschen in Deutschland, vielleicht die Mehrheit, weder wissen, was ein Ordensmann ist und noch weniger, was er oder sie von uns halten soll. Die Freude über die Anerkennung durch das Vorkommen in den herrschenden Medien läßt sich m.E. nur so lange aufrechterhalten bis man eines Tages Chomsky oder andere liest, die im Detail zeigen, wie eine Lawine von Lügen und Manipulation in den Medien produziert wird. Empfehlung für ein Weihnachtsgeschenk: Noam Chomsky, Media Control - Wie die Medien uns manipulieren, Hamburg 2003)

Der junge Salvadorianer hat als Novize in der 22 ein Praktikum gemacht. Nach seiner Priesterweihe feierte er bei uns eine Primiz. Vorher hatte ich ihn im convento Sto. Domingo in Guatemala getroffen. Wir diskutierten ziemlich lange über die neoliberale Doktrin, von der er damals sehr überzeugt war. Sein Professor für katholische Soziallehre hatte ihm die Argumente geliefert. (Früher gab es einmal einen scharfen Gegensatz zwischen Katholiken und Liberalen. Davon ist heute nur wenig zu hören.) Nun arbeitet er in Baja Verapaz. Dieser Name stammt von Las Casas, dem unermüdlichen Anwalt der Rechte der Indigenas in Zeiten der europäischen Invasion Lateinamerikas. Er hatte beim spanischen König erreicht, daß die eingeborene Bevölkerung in diesem Gebiet respektiert werden sollte. (Das Wort "Terrorismus" gab es damals noch nicht. Aber der Widerstand der indigenas gegen die Spanier wurde als schwere Sünde klassifiziert, ebenso wie heute der Widerstand gegen die Invasion der USA in Irak oder gegen die von der UNO-Vollversammlung vielfach verurteilte Invasion Palästinas durch den Staat Israel als Terrorismus. Den von uns so sehr geschätzten und umworbenen Medien fällt es nicht ein, Terrorismus zu sagen, wenn es sich um die Kriege der Mächtigsten handelt. Zum Beispiel wenn möglichst viele Gebäude und damit auch Menschen zerstört werden müssen, damit die befreundeten multinationalen Konzerne fette Rekonstruktionsaufträge einstreichen können.) Es gibt mehrere mails von dem jungen salvadorianischen Pater in meiner Liste. Jedes ist ein Notruf oder ein Schrei der Verzweiflung. Um das klar zu machen, möchte ich kurz in die jüngere Geschichte zurückgehen. Zum Dorf gehörten 25000 Menschen. Davon hatte das Militär in Zeiten der Diktatur von Rios Montt in den 80er Jahren ca. 5000 ermordet. Insgesamt wurden in dieser Zeit ca. 200.000 indigenas in Guatemala massakriert. (Um bei den Medien zu bleiben: Interessant wäre ein Vergleich des Umfangs der Berichterstattung über das verabscheungswürdige Attentat in New York und das nicht minder grausame Massaker an der Indigena-Bevölkerung in Guatemala). In Baja Verapaz gab es keine Guerrilla, wohl aber eine beginnende Gewerkschaftsorganisation der Kleinbauern und Landarbeiter. Vor den kürzlich abgehaltenen Wahlen tauchte der ehemalige Diktator im Dorf auf. Es kam zu Auseinandersetzungen. Der letzte Verzweiflungsschrei per e-mail berichtet davon, daß dort Rios Montt die Wahlen gewonnen hat, was ihm Gott sei Dank auf Landesebene nicht gelungen ist. Andere Berichte handeln von Einschüchterungsmaßnahmen gegen das kirchliche Radio, von einem Bombenanschlag gegen den Konvent etc.

Die zweite innerliche Konfrontation, von der ich dieses Mal berichten will, hat wieder mit meiner E-Mail-Liste zu tun. Ich kam von einer Kinderbeichte in der 22 zurück als ich einen Zeitungsartikel über eine Tagung zum Thema Migration des vom Orden betriebenen Instituts Espaces in Brüssel und Berlin vorfand. Die Mitbrüder, die dieses Institut betreiben, sind qualifizierte und zu Recht sehr anerkannte Leute. Dieses Mal entstand mein innerlicher Schock durch Kinderbeichte und Tagungsbericht. Einige Kinder hatten mir mit Tränen in den Augen berichtet, wie sie unter der Abwesenheit ihrer Eltern leiden, die in den USA leben und arbeiten. Von 6 Millionen Salvadorianern betrifft dies zwei Millionen. Der Tagungsbericht spiegelt für meinen Geschmack eine typisch europäische Sicht des Problems. Außerdem verwundert: Eine große Tagung über Migration bei Abwesenheit von kritischen Intellektuellen aus den armen Ländern. So wird weder gefragt nach den Ursachen der Migration und wie Europa in sie verwickelt ist wegen seiner Geschichte der Kolonisation, Ausbeutung und Unterdrückung der Völker der armen Welt, auch nicht wie Europa diese Verhältnisse durch Währungsfond- und unterdrückerische Medienpolitik u.a. weiter aufrechterhält und verschärft und es fehlt ein Blick auf das Leid, das Migration bedeutet. Es produziert ja nicht nur Glück, wenn jemand seine Familie und gewohnte Umgebung verlassen und sich in einer fremden, oft feindlichen Umwelt zurechtfinden muß. (Arme sind ja hier gerade das Gegenteil von begeisterten Touristen! Das ist eher ein Phänomen der noch gut abgesicherten europäischen Mittelschicht.) Die kulturelle Bereicherung des Nordens, wie sie Frau Süssmuth propagiert, ist eine oberflächliche Verharmlosung des Problems.

Nun gibt es ja viele Migranten in Deutschland. Auch fehlt es nicht an Besuchern aus der armen Welt. Erfreulicherweise auch nicht im Orden, was ja seinem Auftrag, eine internationale Organisation in der Kirche zu sein, viel Ehre macht. Kommt es deswegen zu mehr fruchtbarer Konfrontation als anderswo? Ich fürchte, daß die positiven Unterschiede nicht allzu groß sind. Was würde passieren, wenn die beiden e-mail-Schreiber aus dem Dominikanerorden sich träfen? Das weiß ich nicht und Überraschendes gibt es immer wieder. Wie wäre die Espaces-Tagung verlaufen, wenn man die Kinder angehört hätte, die sich darüber beklagen, daß ihnen die Eltern fehlen. Natürlich wäre das nicht genug! Aber statistisch ist eher Harmoniebedürfnis auf beiden Seiten, vielleicht sogar mehr von Seiten der Lateinamerikaner, Afrikaner und Asiaten zu bemerken. Doch dieses ist einer Suche nach der Wahrheit nicht förderlich, wie es bei uns Dominikanern ganz oben auf dem Programm steht. Objektiv gibt es immer weniger Harmonie. Zugleich werden die Anstrengungen größer so zu tun als sei das Gegenteil der Fall.

"Wir müssen den Gürtel enger schnallen. Es langt nicht mehr." Solche und ähnliche Sätze hörte und las ich am häufigsten bei meiner Reise durch Deutschland und Österreich. Warum muß der Gürtel enger geschnallt werden, wenn doch die Produktivität enorm steigt und das Bruttosozialprodukt jährlich etwas zunimmt, wenn auch in geringeren Prozentsätzen als früher? fragte ich die wenigen Male, wo ich Gelegenheit dazu hatte. Und wieso, wenn es stimmte, daß der Gürtel enger geschnallt werden muß, müssen es dann die "Dünnen" statt der "Dicken" tun? Warum machen die "Dicken" ihre Gürtel immer länger, während die von ihnen befehligten falschen Propheten verkünden, das Gegenteil sei notwendig?

Ende der siebziger Jahre hatten wir mit einer kleinen Gruppe von evangelischen Theologiestudenten in Göttingen an diesem Thema gearbeitet und dazu auch etwas veröffentlicht. Damals wurde die Verzichtsideologie anders begründet als heute. Wenn wir einfacher leben würden, so wurde damals behauptet, dann käme das den armen Menschen in der sogenannten Dritten Welt zugute, durch einfachen Lebensstil könnten wir auch Energie sparen und Atomkraftwerke stillegen. Mit Hilfe von marxistischer Theorie versuchten wir damals zu zeigen, daß so, wie sich das idealistische Christen vorstellen, Kapitalismus nicht funktioniert. Heute stelle ich mit Überraschung fest, daß unsere Gegner von damals überhaupt kein Problem damit haben, Strecken wie z.B. Berlin/Düsseldorf mit dem Flugzeug zu überwinden, so häufig sie das für nötig halten. Reisen z.B. nach Spanien werden selbstverständlich per Flugzeug gemacht. Die Fronten haben gewechselt. Wir, die Skeptischen von damals, sind zum Teil alternativ geblieben, obwohl wir damals die Kurzgürtelideologie bekämpften, die damals asketischen "Alternativen" haben sich in extreme Konsumisten verwandelt. Die Verzichtsideologie von damals war ziemlich erfolgreich. Gar nicht so idealistische, sondern mit dem rechten Flügel der Christdemokraten verbündete ChristInnen übernahmen bald die Rede vom einfachen Lebensstil ohne ihn zu praktizieren, versteht sich. Heute geht es nicht mehr um Verzicht zugunsten der armen Welt und der Erhaltung der Schöpfung, sondern darum, den Mehrwert wie Marx sich ausdrückt, auf die Seite zu schaffen, wo er hingehört. Und genau das ist auch der Grund, weshalb sich damals die Verzichtsideologie in Windeseile verbreitete. Heute sollen wir abspecken, weil sonst angeblich das Kapital in Länder abwandert, wo es günstigere Verwertungsbedingungen findet. Dahinter stecken allerdings keine unbeeinflußbaren Naturgesetze, sondern politischer Wille des Staates, der sich nun wieder in einen gehorsamen Diener des international süchtigen Kapitals verwandelt hat.

Obwohl ich unbelehrbar die damalige Analyse auch heute noch im Wesentlichen für "wahr" halte, würde ich vorschlagen, über die These: "Wir müssen den Gürtel enger schnallen" dieses Mal noch etwas länger und in Ruhe zu meditieren. Konsumverzicht in Europa bewirkt nicht automatisch mehr Wohlstand hier im Süden. Erst recht nicht, wenn er individuell und politisch "neutral" vonstatten geht. Und schon gar nicht, wenn die imperialistische Wirtschaftspolitik der G7 gegenüber den armen Kontinenten fortgesetzt wird. Konsumverzicht erzwingt auch keineswegs weniger Energieverschwendung. Zur Zeit nimmt der Massenkonsum ab und der energieverschwendende Tourismus der Waren enorm zu.

Dennoch: Konsum muß erheblich reduziert werden wenn die Kinder, die heute geboren werden, eine Lebenschance haben sollen! Kinder im Norden und im Süden! "Da fange ich am besten gleich bei mir ganz persönlich an", würden wahrscheinlich viele der wenigen übriggebliebenen Christen sagen. Aber um ein Beispiel zu nennen: Mister Bush wird deshalb nicht sein wahnsinniges Rüstungsprogramm reduzieren. Dieses läuft ja auf der Basis des erzwungenen Konsumverzichts der Armen in den USA und des Ressourcentransfers aus Lateinamerika in den Norden, zum Beispiel über den Mechanismus der schon mehrfach bezahlten, aber immer noch steigenden Schulden. Allgemeiner Konsumverzicht zur Rettung der Zukunft ist nicht in erster Linie eine individuelle, sondern eine politische Aufgabe, impliziert politische und persönliche Befreiung. Massen, die von der Konsumdroge abhängig gemacht worden sind, werden kaum bereit sein, auf sie zu verzichten, wenn keine Alternative eines glücklichen Lebens in Sicht ist.

Dies sollte ein Weihnachtsbrief werden. Wahrscheinlich ist der Versuch gescheitert. Überhaupt fällt es mir in diesem Jahr besonders schwer, mich vom Advent zu trennen. Aber ich bin mir sicher, daß Weihnachten nicht auf der Basis der Verdrängung der Tatsache zu haben ist, daß 80% der Weltbevölkerung in diesen Breiten leben. Die herrschende Sicht, hier wimmele es von potentiellen Terroristen, ist eine zerstörerische, auch selbstzerstörerische, fürchterlich rassistische Ideologie, Ideologie im klassischen Sinne von falscher Wahrnehmung der Wirklichkeit. In diesen Tagen las oder hörte ich irgendwo, die Zeit der Aufmerksamkeit für die Probleme der armen Welt sei in den reichen Ländern dahin. Die Sorge um die Selbstfindung habe sie - auch in den christlichen Institutionen - ersetzt. Vielleicht zum Schluß eine simple Frage: Wie können wir lernen, aufeinander zu hören? Dazu gehört wohl die geduldige, langwierige Ermutigung des Anderen wirklich zu sprechen, statt herrschende nördliche Sprache zu kopieren. Ist das nicht Gebet?