Was geht uns Palästina an?

Von Pater Gerhard Pöter, OP, El Salvador, Ostern 2009

In der Weihachtszeit ging einer kleinen Gruppe von (hauptsächlich) Ordensschwestern, Ordensbrüdern und Mitgliedern der hiesigen muslimischen Gemeinschaft sowie der lutherischen Kirche nahe, was zu dieser Zeit in Gaza geschah. Eine Italienerin, die zu keiner dieser Gruppen gehört, hatte wie schon vor einem Jahr viel getan, uns zu motivieren. So legten wir einen Fastentag ein, zu der unser Prior die große Rosariokirche zur Verfügung stellte. Zu derselben Zeit fand ich einen Text von jüdischen Intellektuellen in Großbritannien, den ich im Folgenden übersetzt ins Deutsche kopiere:

Wir, die wir unsere Unterschrift unter diesen Brief gesetzt haben, sind alle jüdischen Ursprungs. Wenn wir die Toten und die blutigen Körper der kleinen Kinder sehen sowie die Unterbrechung der Wasser- und Stromzufuhr und der Lieferung von Lebensmitteln, erinnern wir uns an die Blockade des Ghettos von Warschau. Wenn Doy Weinglass, Berater des israelischen Ministerpräsidenten, sagt, dass er die Bewohner von Gaza "auf Diät" setzen werde und der Vizeverteidigungsminister, Matan Vilnai, dass die Palästinenser "eine größere Shoah (Holocaust)" erleben werden, so erinnert uns das an die Äußerung des Generalgouverneurs Hans Frank im von den Nazis besetzten Polen, der von "Tod durch Hunger" sprach.

Der wirkliche Grund des Angriffs gegen Gaza ist, dass Israel es nur mit Kollaborateuren zu tun haben möchte. Das Hauptverbrechen von Hamas ist nicht der Terrorismus, sondern seine Weigerung, sich in einen Hampelmann des israelischen Besatzungsregimes in Palästina zu verwandeln.

Die Entscheidung der Europäischen Gemeinschaft im vergangenen Monat, die Qualität der Beziehungen mit Israel zu verbessern, ohne die Einhaltung der Menschenrechte zu verlangen, hat Israel zu einer noch größeren Aggression ermutigt. Die Gelegenheiten, Israel zu mäßigen, sind schon seit einiger Zeit nicht mehr vorhanden. Als ersten Schritt sollte Großbritannien seinen Botschafter aus Israel zurückrufen und wie zu Zeiten der Apartheid in Afrika ein Programm des Boykotts verfügen, Investitionen unterlassen und Sanktionen durchführen.

Unterstützer des Aufrufs:
Ben Birnberg, Prof Haim Bresheeth, Deborah Fink, Bella Freud, Tony Greenstein, Abe Hayeem, Prof. Adah Kay, Yehudit Keshet, Dr Les Levidow, Prof Yosefa Loshitzky, Prof Moshe Machover, Miriam Margolyes, Prof. Jonathan Rosenhead, Seymour Alexander, Ben Birnberg, Martin Birnstingl, Prof. Haim Bresheeth, Ruth Clark, Judith Cravitz, Mike Cushman, Angela Dale, Merav Devere, Greg Dropkin, Angela Eden, Sarah Ferner, Alf Filer, Mark Findlay, Sylvia Finzi, Bella Freud, Tessa van Gelderen, Claire Glasman, Ruth Hall, Adrian Hart, Alain Hertzmann, Abe Hayeem, Rosamene Hayeem, Anna Hellmann, Selma James, Riva Joffe, Yael Kahn, Michael Kalmanovitz, Ros Kane, Prof. Adah Kay, Yehudit Keshet, Mark Krantz, Bernice Laschinger, Pam Laurance, Dr. Les Levidow, Prof. Yosefa Loshitzky, Prof. Moshe Machover, Beryl Maizels, Miriam Margolyes, Helen Marks, Martine Miel, Diana Neslen, O Neumann, Susan Pashkoff, Hon. Juliet Peston, Renate Prince, Roland Rance, Sheila Robin, Ossi Ron, Manfred Ropschitz, John Rose, Prof. Jonathan Rosenhead, Leon Rosselson, Michael Sackin, Ian Saville, Amanda Sebestyen, Sam Semoff, Prof. Ludi Simpson, Viv Stein, Inbar Tamari, Ruth Tenne, Norman Traub, Eve Turner, Tirza Waisel, Karl Walinets, Renee Walinets, Stanley Walinets, Philip Ward, Naomi Wimborne-Idrissi, Ruth Williams, Jay Woolrich, Ben Young, Myk Zeitlin, Androulla Zucker, John Zucker.

Es gibt natürlich sehr viele Texte zum Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza. Die wertvollsten sind meines Erachtens zurzeit diejenigen, die von Juden verfasst worden sind und werden.

Was folgt aus der Tatsache, dass es der deutsche Nazistaat war, der Millionen von europäischen Juden, Sinti und Roma, Kommunisten und Homosexuelle misshandelt und ermordet hat?

Nach meiner Ansicht können wir nicht aufhören, uns diese Frage zu stellen. Unsere Generation ist ja noch in Familien aufgewachsen, deren Erwachsene unter der Naziherrschaft sozialisiert worden sind. Der Widerstand war bekanntlich gering. Entweder hat man jenes Verbrecherregime aktiv unterstützt oder geschwiegen, beides zahlte sich damals wie heute als Unterstützung aus. Ich weiß nicht genau, wie das in meiner Familie war. Vermutlich gab es beide Haltungen: Schweigen und Mitmachen.

Frau Merkel hat zu Beginn der Völkermordaktion des israelischen Staates in Gaza versichert, sie würde den israelischen Staat in seinen militärischen Aktionen hundertprozentig unterstützen. Ihre "Verarbeitung der Naziverbrechen gegen die jüdische Bevölkerung" ist nur eine mögliche.

Eine andere wäre, im Bewusstsein darüber, in welcher üblen Tradition wir stehen, heute allen Rassismus und neuen Kolonialismus abzulehnen und gegen ihn aktiv zu werden. Deshalb hat das, was zurzeit mit der Bevölkerung von Gaza geschieht, sehr viel mit uns in Mittelamerika und auch mit uns Europäern zu tun. Das Schweigen dort bei Euch ist von hier aus gesehen so erschreckend wie die Tötung von Kindern und Erwachsenen, eingesperrt in ihrem eigenen Land. Wie wir vor kurzem gelernt haben, ist die Folter als akzeptierte Praxis staatlicher Organe noch längst nicht überwunden ebenso wie kolonialistische Politik, die auch von Europa aus geduldet, aktiv vorbereitet und durchgeführt wird.

Der zweite Text stammt von Moise Brajtberg, einem jüdischen Schriftsteller:

Herr Präsident des israelischen Staates:

Ich schreibe Ihnen, um Sie zu bitten, sich bei wem auch immer, dafür einzusetzen, dass von der Gedenkstätte Yad Vashem, dem Gedenken an die jüdischen Opfer des Nazismus gewidmet, der Name meines Großvaters Moshe Brajtberg entfernt wird, der im Jahre 1943 in Treblinka vergast wurde, so wie die Namen der anderen Mitglieder meiner Familie, die während ihrer Deportation in verschiedene Nazi-Konzentrationslager im Zweiten Weltkrieg gestorben sind. Denn, was in Gaza geschehen ist und allgemeiner dem arabischen Volk in Palästina seit sechzig Jahren angetan wird, disqualifiziert in meinen Augen Israel für ein Zentrum der Erinnerung an das Böse, das den Juden und damit der ganzen Menschheit widerfahren ist.

Seit meiner Kindheit habe ich inmitten von Überlebenden der Todeslager verbracht. Ich habe die Nummern gesehen, die auf ihren Armen eingebrannt waren, die Berichte von den Folterungen gehört, ihre unmögliche Trauer kennengelernt und mit ihnen ihre Alpträume geteilt.

Sie haben mich gelehrt, dass notwendig ist, dass diese Verbrechen niemals wieder von Neuem begangen werden, dass nie mehr ein Mensch einen anderen Menschen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder zu einer Religion verachtet, seine fundamentalen Rechte, also ein Leben in Würde und Sicherheit verletzt, dass viel mehr die Freiheit von Barrieren garantiert und das Licht einer Zukunft in Ruhe und Wohlstand, wie weit entfernt auch immer, leuchten kann.

Aber Herr Präsident, ich beobachte, dass trotz Zehnern von Resolutionen, von der internationalen Gemeinschaft getragen, trotz der klaren Zeichen der Ungerechtigkeit, die gegen das palästinische Volk seit 1948 verübt wird, trotz der Hoffnungen, die durch die Vereinbarungen von Oslo geboren wurden und obwohl das Recht der israelischen Juden in Frieden und Sicherheit zu leben, anerkannt wurde, häufig wiederholt von der palästinensischen Regierungsmacht, die einzigen Antworten der bisherigen Regierungen Ihres Landes die Gewalt, das Blutvergießen, das Einschließen, die unaufhörlichen Kontrollen, die Kolonisierung, die Ausraubung gewesen sind.

Sie, Herr Präsident, werden mir sagen, dass es legitim ist, dass Ihr Land sich verteidigt gegen diejenigen, die Raketen gegen Israel abfeuern oder gegen die Kamikazekämpfer, die viele unschuldige Leben von Israelis vernichtet haben. Worauf ich antworte, dass meine humanitären Gefühle nicht variieren je nachdem, welche Staatsangehörigkeit die Opfer besitzen.

Dagegen regieren Sie, Herr Präsident, einen Staat, der nicht nur beansprucht, alle Juden zu repräsentieren, sondern auch das Andenken an die Opfer des Nazismus zu bewahren. Das ist es, was mir Sorgen macht und was mir unerträglich ist. Indem Sie vorgeben, in der Gedenkstätte Yad Vashem, im Herzen des Staates Israel, die Namen meiner Verwandten aufzubewahren, hält Ihr Staat in Wirklichkeit das Andenken meiner Familie hinter Stacheldrahtzäunen des Zionismus gefangen, damit sie wie Geiseln einer sogenannten moralischen Autorität funktionieren, die täglich die Abscheulichkeit begeht, Gerechtigkeit zu verweigern.

Deshalb bitte ich Sie, entfernen Sie den Namen meines Großvaters aus dem Heiligtum, das der Grausamkeit, die gegen die Juden begangen wurde, gewidmet ist, damit es heute nicht die Grausamkeit gegen die Palästinenser rechtfertigen hilft!

Sírvase aceptar, señor presidente, el testimonio de mi respetuosa consideración.