Von Robert Leicht
Wenn man von einer Person sagt, sie sei umstritten gewesen, dann klingt das noch im Respekt wie eine Distanzierung. Aber wenn man von einem Theologen – oder eben einer Theologin – sagt, sie sei nicht umstritten gewesen, dann kann man auch gleich sagen: Er oder sie sei gar kein Theologe, keine Theologin gewesen.
Dorothee Sölle, die am gestrigen Sonntag im Alter von 73 Jahren gestorben ist, war immer beides auf legitime Weise gewesen, Theologin und umstritten. Wer Gottes Wort in dieser Welt weitersagt, kann gar nicht anders leben als in zwei Dimensionen: im Zuspruch wie im Einspruch. Und wer, wie Dorothee Sölle in einem ihrer bekanntesten Bücher über die „Stellvertretung – Ein Kapitel Theologie nach dem Tode Gottes“ (1965), also über die Nachfolge Jesu schreibt, der muss auch im Widerspruch leben. Zumindest im Widerspruch zu den Mächtigen und Selbstzufriedenen und Bequemen. (Übrigens auch im Widerspruch zu ebenso anerkannten Theologen, die ihre Vorstellung der ‚Stellvertretung' nicht ganz ohne Grund auch kritisch betrachteten.)
Und erst recht muss im Einspruch und im Widerspruch leben, wer die politischen Dimensionen der Nachfolge Jesu sichtbar macht, zum Beispiel in den zu Recht schon kirchengeschichtlich berühmt gewordenen „Politischen Nachtgebeten“, die Dorothee Sölle mit ihrem Mann, dem vormaligen Benediktinermönch Fulbert Steffensky konzipiert hatte, in Köln, vordem. Aber wer die Politik aus den Folgen des Evangeliums heraushalten will, der betreibt beides – schlechte Politik und das falsche Evangelium.
In Köln ist sie auch geboren, am 30. September 1929, als Tochter des Arbeitsrechtlers Hans Carl Nipperdey. Nach dem Krieg studiert Sölle in der Stadt am Rhein sowie in Freiburg und Göttingen Theologie, unterrichtet im höheren Schuldienst, macht sich in den Sechzigerjahren als Schriftstellerin einen Namen. Und als Feministin, Ökologin, Friedenskämpferin. Sie besucht Nordvietnam und Nicaragua, protestiert gegen den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung und blockiert Mutlangen. In den Achtzigern lehrt sie Systematische Theologie in New York, plädiert nach dem Fall der Mauer für eine langsame Gangart der Wiedervereinigung, tritt 1995 in den Ost-PEN ein, veröffentlicht ihre Erinnerungen unter dem Titel „Gegenwind“ und engagiert sich für das Asylrecht. Zuletzt kritisierte sie vor einem Jahr den Afghanistan-Krieg und George W. Bushs Außenpolitik nach dem 11. September, in einem gemeinsamen Aufruf mit Intellektuellen wie Carl Amery, Walter Jens und Günther Wallraff.
Dorothee Sölle also war streitbar, aber das aus schlichter Frömmigkeit. Es ist ja oft so, dass ganz fromme Menschen ganz radikal sind. Manchmal wünschte man sich, das müsste nicht immer so sein. Aber noch mehr wünschte man sich, dass die Kritiker dieser Frommen nicht so von Hass erfüllt wären. Dorothee Sölle war von sehr vielen bewundert worden, ihre Bücher, darunter „Welches Christentum hat Zukunft?“ (1990) sowie „Mystik und Widerstand“ (1997) wurden von sehr vielen aufmerksam gelesen. Aber die ja immer auch berechtigte Kritik am Wirken eines jeden von uns ist ihr gegenüber so oft umgeschlagen in heftige Ablehnung, in die Verweigerung der Anerkennung, dass manche sich dessen schämen sollten, was sie ihr in frühen Jahren angetan und vorenthalten haben. Eine Ablehnung, die immer wieder nicht nur der Theologin, sondern auch der selbstbewussten Frau entgegenschlug.
„Religion lehrt sterben. Wir wohnen kurz auf geliehener Erde“, sagte sie einmal. Am Wochenende hatte die linke Christin an einem Seminar der Evangelischen Akademie Bad Boll teilgenommen. Dort erlitt sie einen Herzinfarkt und starb nun in einer Göppinger Klinik. Dass Dorothee Sölle nicht nur eine Pionierin der politischen Theologie war, sondern auch der Frauen in der Theologie – dafür gebührt ihr bleibende Dankbarkeit.