Die neureligiöse Szene im Kapitalismus - Kapitalismus als Religion

einige Bemerkungen zur religiösen Lage der Gegenwart

Auch bei dem diesjährigen Kirchentag wird es wieder einen (religiösen) Markt der Möglichkeit geben. So wichtig der plurale Erfahrungsbezug des Glaubens ist und so bedeutsam es ist, die individuellen Freiheitsbedürfnisse des Menschen gegen seine Funktionalisierung auch noch im religiösen Bereich aufzugreifen, so darf der erste Blick auf die plurale religiöse Szene innerhalb und außerhalb der Kirchen nicht die Sicht auf die uns gegenwärtig maßgeblich bestimmende, aber in ihrem religiösem Charakter noch nicht zureichend erkannte Religionsform verstellen: Die Religion der Warengesellschaft. In zahlreichen religiösen Strömungen der Gegenwart vom New Age bis hin zur sogenannten Zivilreligion wird ein Menschentyp propagiert, der den spezifischen Anforderungen einer globalisierten Ökonomie entspricht. Die Handlungsunfähigkeit der Individuen in diesen Verhältnissen wird oft durch eine "Karmalehre, herausgelöst aus ihrem geschichtlichen und sozialen Zusammenhang in Indien", pseudoreligiös verbrämt. (H. Zinser) Die ekklektische Manier, aus unterschiedlichsten Weltre(li)gionen Bausteine zu holen, um sie in diese Religion des Individualismus einzupassen, ist nicht Ausdruck weltoffener Toleranz, sondern lediglich die Unterwerfung geistig-geistlicher Traditionen unter die Tauschlogik: "Die Versatzstücke finden sich als fraktionierte Elemente von fremden Systemen, als geistliche Kolonialwaren, im Marktangebot einer globalen Informationsgesellschaft oder auch schon aufbereitet in der Therapiegesellschaft." (Leuzinger)

Schon Theodor W. Adorno hat 1951 in den Minima Moralia auf den engen Zusamenhang von Okkultismus und Spätkapitalismus hingewiesen. In seinen Thesen gegen den Okkultismus interpretiert Adorno die "Regression auf magisches Denken unterm Spätkapitalismus" als Antwort des Individuums auf den Fetischismus der Ware: "Der Okkultist zieht aus dem Fetischcharakter der Ware die äußerste Konsequenz: die drohend vergegenständlichte Arbeit springt ihn mit ungezählten Dämonenfratzen aus den Gegenständen an. Was in der zum Produkt geronnenen Welt vergessen ward, ihr Produziertsein durch den Menschen, wird abgespalten, verkehrt erinnert, als ein Ansichseiendes dem An sich der Objekte hinzugefügt und gleichgestellt." (S.322)

Der Kapitalismus erwies sich schon in der Geschichte den großen Weltreligionen gegenüber als tolerant. Schon im Jahre 1734 macht Voltaire an der Londoner Börse die Beobachtung, daß darin zwischen den Angehörigen der drei Weltreligionen eine praktische Toleranz ausgebrochen war. Der springende Punkt dabei war Voltaires Unterstellung, daß diese Toleranz eigentlich nur erklärbar ist, wenn man davon ausgehe, daß die an der Börse handelnde Juden, Muslime und Christen de facto alle der gleichen Religion angehören. Voltaire sagt uns auch gleich, welches diese Religion ist, indem er nämlich festhält, wer ihre Ungläubigen sind: "ceux qui font banqueroute" (Lettres philosophiques).

Die Toleranz der kapitalistischen Religion hat also dort ihre Grenzen, wo dem eigenen religiösen System gegenüber Unglauben praktiziert wird, will heißen wo ein Börsenteilnehmer kreditunwürdig wird und aus der Glaubensgemeinschaft herausfällt (lat. credere heißt sowohl vertrauen, glauben, als auch anvertrauen, ein Darlehn geben). So ähnlich läßt sich auch heute noch bei dem ökonomischen Berater Präsident Clintons, Robert Reich lesen.

Mit dem Bild des sich täglich zweimal vor Konfuzius verneigenden, selben Voltaire beginnt der Leitartikel der am 29. Mai diesen Jahres, also vor drei Wochen erschienenen Zeitschrift Wirtschaftswoche mit dem Titel: "Macht Glauben reicher?" Der Chefredakteur Stefan Baron stellt sich darin die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Wohlstand, speziell auch in den konfuzianisch geprägten asiatischen Ländern. Diese seien geprägt von Leistungsdenken, Sparsamkeit und Gemeinschaftgeist (Ordnungsliebe) und hätten damit "als einziger Kulturkreis der sogenannten Dritten Welt (..) auf die europäisch-amerikanische Herausforderung eine eigene, überzeugende Antwort gefunden."

Ich möchte noch zwei weitere Beispiele aus der unmittelbaren Gegenwart nenne: "Die Zeit" überschrieb am 12.5.95 einen Artikel über die wirtschaftliche Situation in Chile und den dort eingeschlagenen neoliberalistischen Kurs: "Staatsreligion Kapitalismus". In derselben Zeitung (1.11.96) veröffentlichte der französische Soziologe Pierre Bourdieu seine Polemik gegen Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, indem er die Charakterisierung des Le monde von Tietmeyer als Hohem Priester der D-Mark Religion aufgreift. Bourdieu schreibt: "Denn wir haben es hier mit Religion zu tun", mit einem "wohldurchdachten Delirium", das den Interessen der Herrschenden entspricht.

Doch kommen wir zu unseren Ausgangsfragen bezüglich der religiösen Lage der Gegenwart zurück, ob nicht nicht die religiösen Angebote, sondern der Markt- bzw. Warencharakter selbst das Entscheidende ist. Und inwiefern kann die Warengesellschaft als Religion bezeichnet werden? Können im Kapitalismus selbst religiöse Züge aufgewiesen werden?

Es gibt ein Fragment von Walter Benjamin, das häufiger Gegenstand von Überlegungen in der Korrespondenz der ChristInnen für den Sozialismus war und mit dem Satz beginnt: "Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben." Benjamin glaubt zwar, daß es "heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen" würde, wollte man versuchen, die These nachzuweisen, daß der Kapitalismus nicht religiös bedingt ist, sondern eine religiöse Struktur aufweist. Dennoch hält Benjamin daran fest, daß die kapitalistische Religion sich nicht neben dem Christentum als der herkömmlichen dominanten Religion entwickelt hat, daß sich der Kapitalismus nicht nur "auf dem Christentum, parasitär im Abendland entwickelt" hat, sondern daß die Geschichte des Abendlandes von nun an wesentlich die "Geschichte (...) seines Parasiten, des Kapitalismus ist."

Dem ist hier nichts weiter hinzuzufügen.

 

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Zuletzt überarbeitet: Samstag, 16. August 1997 © CfS 1997