Sieben Irrtümer zur Schuldenbremse

von Guenther Sandleben, März 2011

Als die große Krise 2008/2009 die Staatverschuldung sprunghaft in die Höhe trieb, kamen deutsche Politiker und Ökonomen auf die wenig originelle Idee, die ausufernde Staatsverschuldung durch eine Schuldenbremse zu begrenzen. Was die bis dahin gültigen Verschuldungsgrenzen nicht bewirken konnten, soll jetzt eine neue juristische Regel herbeizaubern.

Im Rahmen der Föderalismuskommission II einigte sich im Februar 2009 die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD auf die Schuldenbremse. Der Bundestag stimmte am 29.5. mit 2/3 Mehrheit einer entsprechenden Änderung des Grundgesetzes zu. Als erstes Bundesland nahm Schleswig- Holstein eine Schuldenbremse in die eigene Landesverfassung auf. CDU und FDP sowie die Oppositionsparteien SPD, Grüne und SSW votierten Mitte Mai 2010 im Kieler Landtag für die Verfassungsänderung. Der hessische Landtag beschloss mit 106 zu fünf Stimmen ein Gesetz zur Einführung einer Schuldenbremse in die Landesverfassung. Darüber findet am 27.3.2011 eine Volksabstimmung statt.

Die Schuldenbremse soll den Bund darauf verpflichten, sein strukturelles (von der Konjunktur unabhängiges) Haushaltsdefizit bis 2016 auf 0,35 % des BIP zurückzuführen. Die Länder sollen bis 2020 ein ausgeglichenes Budget vorlegen.

Sofort bildeten sich zwei Parteien heraus, eine mächtige und eine weniger mächtige, die seitdem über die Notwendigkeit einer Schuldenbremse streiten. Besonders heftige und leidenschaftliche Auseinandersetzungen um das Für und Wider einer Schuldenbremse finden im Umfeld der hessischen Volksabstimmung statt. Die Heftigkeit des Streits verdeckt wichtige Gemeinsamkeiten, die beide Parteien miteinander haben. Auf diese vernachlässigte Seite der Auseinandersetzung soll zunächst eingegangen werden. Unter Einbeziehung der Voraussetzungen der Schuldenbremse werde ich dann in einem zweiten Schwerpunkt sieben Irrtümer der Schuldenbremse vorstellen.

1. Befürworter der Schuldenbremse

Für die Schuldenbremse sind alle parlamentarischen Parteien, mit Ausnahme der Linkspartei. Die Vertreter der Wirtschaft sind grundsätzlich dafür, ebenso die neoliberalen Professoren und weitgehend auch die Massenmedien.

Diese Befürworter der Schuldenbremse sehen in der Verschuldung eine Gefahr für die Handlungsfähigkeit des Staates. Sie wollen die Verschuldung rasch begrenzen. Als ein Mittel dafür sehen sie die Schuldenbremse an.

Der damalige Finanzminister Peer Steinbrück verteidigte in seiner Rede im Bundestag am 29.5.2009 die Schuldenbremse mit den Worten: „Ohne die Schuldenbremse würde der Staat angesichts gigantischer Verbindlichkeiten schlicht handlungsunfähig. Ein Handlungsfähiger Staat braucht langfristig tragfähige öffentliche Finanzen.“

Ähnliches vertrat Hessens Finanzminister Dr. Thomas Schäfer: „Nur wenn Deutschland rauskommt aus der Schuldenfalle, werden wir unsere politische Handlungsfähigkeit bewahren können.“

Die neoliberalen Wirtschaftsprofessoren Olaf Sievert, Lars P. Feld und Johann Eekhoff haben den Stabilitätsauftrag der Schuldenbremse so formuliert: „Staatsbankrotte und Inflation pflastern den Weg der Wirtschaftsgeschichte. Der Staat muss sich Fesseln anlegen. (…) Wenn Deutschland nicht in die Situation Griechenlands geraten will, ist die Einhaltung der Schuldenbremse unabwendbar.“

2. Gegner der Schuldenbremse

Zu den Gegnern der Schuldenbremse gehören die Partei „Die Linke“, die Plattform „Handlungsfähiges Hessen“ (dahinter stehen u. a. der DGB und einige Einzelgewerkschaften), Attac Frankfurt, die Diakonischen Werke in Hessen und einige keynesianisch orientierte Professoren.

Die Gegner sehen in der Schuldenbremse ein falsches Mittel. Damit könne man die Handlungsfähigkeit des Staates gerade nicht sichern, so dass die Stabilisierung ökonomischer Verhältnisse fragwürdig wäre. Die Schuldenbremse entspreche ihrer Meinung nach nicht dem Ziel der Systemerhaltung. Diese Absicht, das System zu erhalten, hat beispielsweise der Landesvorsitzende der GEW in Hessen, Jochen Nagel, vor allem sozialstaatlich begründet.

„Die Schuldenbremse wird von Brandstiftern vorangetrieben, die sich jetzt als Feuerwehrleute ausgeben, um mit dem „Löschwasser“ auch noch die Reste des Hauses zu zerstören. Das Haus heißt „handlungsfähiger demokratischer Sozialstaat“. Ein Staat, der in der Lage ist, die Ungerechtigkeiten und sozialen Verwerfungen unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems soweit wie möglich auszugleichen“. Und er fährt fort: „Mit diesem Löschwasser (gemeint ist die Schuldenbremse) soll die sozialstaatliche Handlungsfähigkeit weiter zerstört werden. (…) Wir (sind) für eine nachhaltige Haushaltspolitik, bei der Einnahmen und Ausgaben dauerhaft ins Gleichgewicht gebracht werden und der Fokus auf einem handlungsfähigen und nicht auf einen Mager-Staat liegt. Und wir sind – gemeinsam mit führenden Ökonomen – der Überzeugung, dass politische Handlungsfähigkeit nicht durch ein generelles Schuldenverbot abgewürgt werden darf. (….) Deshalb sagen wir Nein zu dieser Schuldenbremse“.

Ich denke, die Worte sind ziemlich klar: Jochen Nagel sieht die politische Handlungsfähigkeit des Staates, die ihm wichtig ist, durch die Schuldenbremse gefährdet. Dass Nagel die sozialpolitische Handlungsfähigkeit hervorhebt, mag uns sympathisch sein. Diese sozialpolitische Handlungsfähigkeit stellt er jedoch in den Dienst der Systemstabilisierung. Er will, dass der Staat seine Rettungskompetenz für das kapitalistische System behält. Der Staat soll, wie Nagel schreibt, „die Ungerechtigkeiten und sozialen Verwerfungen unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems so weit wie möglich ausgleichen.“ Das fehlerhafte Wirtschaftssystem soll geschützt werden. Durch die Schuldenbremse sieht Nagel diese Rettungskompetenz des Staates in Frage gestellt.

Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche hat dies folgendermaßen ausgedrückt: „’Die wichtigste Aufgabe des Staates ist es, die öffentlichen Güter – innere und äußere Sicherheit, Rechtsstabilität, Infrastruktur und Bildungseinrichtungen – bereit zu stellen, die für ein gelingendes Gemeinwesen notwendig sind’(EKD 2009: Ziff. 26). Die Schuldenbremse beschneidet die Investitionsmöglichkeiten des Staates und damit ganz entscheidend die Investitionen in Bildung, Kultur und die gesamte soziale Infrastruktur.“

Verdi-Chef Frank Bsirske nennt noch weitere Gesichtspunkte, die gegen die Schuldenbremse sprechen würden: „Was da als Schuldenbremse angekündigt wird, entpuppt sich beim näheren Hinsehen als Investitions- und Wachstumsbremse“5. In der Schuldenbremse sieht er direkt eine Akkumulationsbremse für das Kapital. Und darüber hinaus sieht er in der Schuldenbremse die Gefahr, dass die staatliche Konjunktursteuerung untergraben werde.

3. Gemeinsamkeiten

Befürworter wie Gegner diskutieren also die Schuldenbremse ganz unter dem Gesichtspunkt des Systemerhalts. Beide Positionen stehen fest auf dem Boden kapitalistischer Verhältnisse. Sie streiten nur darum, wie man die Verhältnisse am besten stabilisieren kann. Über den Zweck, das System zu stabilisieren, besteht Einigkeit. Strittig ist nur, ob die Schuldenbremse dafür ein geeignetes Instrument ist.

Beide Seiten reduzieren also den Streit um die Schuldenbremse auf die Frage der Effizienz dieses Mittels. Effizienz meint die Tauglichkeit der Schuldenbremse hinsichtlich einer Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse. Diese Verhältnisse bleiben aber von der Kritik ausgespart. Das kapitalistische Wirtschaftssystem wird von beiden bejaht. Der Staat wird grundsätzlich bejaht, entweder als abgespeckter Staat oder als starker Interventionsstaat. Hier brechen dann sowohl die Befürworter als auch die Gegner einer Schuldenbremse ihre Kritik ab. Beide wollen die Verhältnisse, wie sie sind, grundsätzlich bestehen lassen.

Aber der Kapitalismus selbst, als die Voraussetzung der Schuldenbremse und als das Ziel, das mit oder ohne Schuldenbremse stabilisiert werden soll, muss thematisiert werden. Hier darf es keine Tabus geben. Die Kritik der Schuldenbremse muss eine Kritik der Verhältnisse einschließen, die eine solche Schuldenbremse benötigen.

In diesem erweiterten Sinne habe ich meine Kritik an der Schuldenbremse formuliert. Ich möchte nun sieben Thesen zur Schuldenbremse vorstellen, um darin die Irrtümer kenntlich zu machen. Diese Irrtümer werfen zugleich ein kritisches Licht auf die kapitalistischen Verhältnisse.

4. Zu den Irrtümern der Schuldenbremse

Irrtum 1: „Die Schuldenbremse soll eine nachhaltige Erhöhung des staatlichen Schuldenstands ausschließen.“

Ein Argument der Befürworter der Schuldenbremse

Eine Erhöhung des Schuldenstands kann die Schuldenbremse gar nicht ausschließen. Die Höhe der Neuverschuldung ist nicht planbar. Denn die Neuverschuldung ist eine Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung. Läuft die Konjunktur gut, dann nimmt der Staat mehr ein und gibt weniger aus für Arbeitslose oder für Konjunkturprogramme. Läuft die Konjunktur schlecht, dann sinken die Steuereinnahmen und die Ausgaben steigen. Vor der großen Krise plante man, die Neuverschuldung zu senken. Das Gegenteil trat ein. Rettungsprogramme für die Banken und Konjunkturprogramme führten zu einem sprunghaften Anstieg der Verschuldung.

So wenig eine kapitalistische Wirtschaft planbar ist, so wenig ist die Neuverschuldung planbar, die eine Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung ist. Die Schuldenbremse unterstellt aber die Planbarkeit der Verschuldung. An eine Planung der Wirtschaft denken die Befürworter der Schuldenbremse aber nicht. Die Schuldenbremse enthält nur die formalistische Regel, grundsätzlich keine neuen Schulden aufzunehmen. Die dahinter stehenden materiellen Verhältnisse bleiben unreguliert.

Auch die Ausnahmeregelungen, die die Schuldenbremse vorsieht, werden der Sache nicht gerecht. Beispielsweise sieht die Schuldenbremse eine konjunkturelle Verschuldungskomponente vor. Die in einer Rezessionsphase aufgenommenen Schulden sollen im anschließenden Boom getilgt werden. Diese formalistische Regel unterstellt symmetrische Konjunkturverläufe, die es gar nicht gibt. Diese Regel steht im Widerspruch zum tatsächlich existierenden Kapitalismus, der planungslos von Krise zu Krise stolpert.

Wer die Staatsschulden wirklich planen will, der muss auch die Wirtschaft planen. In der Vergangenheit gab es bereits etliche Schuldenregeln. Sie blieben unwirksam. In den USA gibt es Schuldenregelungen in den Verfassungen einzelner Bundesländer bereits seit 1840. Mit sehr zweifelhaftem Erfolg, wie man anhand der hochverschuldeten US-Bundesstaaten sehen kann. Ausgabengrenzen sehen das amerikanische Haushaltssanierungsgesetz von 1990 (Budget Enforcement Act) und das Haushaltsausgleichsgesetz von 1997 (Balanced Budget Act) vor. Auch das hat nicht die Ausgabenexplosion als Folge der Krise verhindern können. In Deutschland gab es bis 1969 eine Art Schuldenbremse: Eine Kreditfinanzierung öffentlicher Ausgaben war nur im Ausnahmefall zugelassen.

Die Regel musste fallen gelassen werden, als der Kapitalismus mit der Krise 1966/67 in sein normales Stadium zurückkehrt war. Die damalige Rezession weckte bei den Vertretern des Kapitals das Bedürfnis nach Konjunktursteuerung, das der Staat mit zwei Investitionsprogrammen (1,5 Prozent und 0,9 Prozent des BIP) befriedigte. Die Große Finanzreform von 1969 entsprach dieser neuen Ausrichtung einer aktiven Konjunkturförderung. Als „Goldene Regel“ sollte nun gelten, dass die Kreditaufnahme nicht höher sein durfte als die Ausgaben für Investitionen. Auch das wurde nicht eingehalten. 1993 trat der Maastricht-Vertrag in Kraft. Nach diesen EU-Konvergenzkriterien durfte die Neuverschuldung maximal 3% des BIP betragen. Für den Schuldenstand waren 60 % vorgesehen. Obwohl mit Sanktionsmechanismen ausgestattet, erwiesen sich diese formalistischen Regeln als untauglich.

Warum?

Wer die Schulden planen will, muss die Ökonomie planen. Und genau das passierte nicht.

Irrtum 2: „Die Schuldenbremse zwingt zum Sparen.“

Diese These vertreten Befürworter wie Gegner der Schuldenbremse. Die einen begrüßen das, die anderen sehen darin eine „Sozialstaatsbremse“.

Unser kurzer Ausflug in die Geschichte juristischer Schuldenregulierungen legt bereits nahe, dass Schulden-Regeln keineswegs zum Sparen zwingen. Das zu meinen, erwies sich in der Vergangenheit als ein Irrtum.

Der heutige Zwang zum Sparen hat nichts mit Schuldenregeln zu tun. Griechenland, Irland, Spanien, Portugal etc. haben sehr harte Sparprogramme aufgelegt. Nicht irgendeine juristische Regel zwingt sie zum Sparen. Die Staaten haben sich schlicht übernommen, als sie ihre Unternehmer, Banker und Groß-Financiers vor der Pleite retteten. Die Staaten bekommen nun keine ausreichenden Kredite mehr vom Kapitalmarkt. Sie müssen sparen, um das Vertrauen der Kapitalmärkte Zurückzugewinnen.

Die Staaten sparen nicht bei denjenigen, die sie einst gerettet hatten. Würden sie das tun, dann müssten sie die Lasten zurückgeben. Das widerspräche aber dem Charakter des Staates, Dienstleister für das Kapital zu sein. Die Staaten zeigten diesen ihren Charakter, als sie Banken und Unternehmen retteten. Als Dienstleister des Kapitals sparen sie nicht bei den Verursachern der Krise. Sie sparen bei den einfachen Leuten, bei Löhnen und Sozialausgaben. Wir sehen das inzwischen überall in Europa.

Die Schuldenbremse bremst nicht. Es sind die dahinter stehenden Interessen, die bremsen wollen. Die juristische Form der Schuldenbremse verwandelt solche Interessen in einen allgemeinen Sachzwang. Klasseninteressen erhalten die sachliche Form der Schuldenbremse.

Irrtum 3: „Wir müssen eine Schuldenspirale mit der Gefahr eines Staatsbankrotts verhindern, deshalb benötigen wir die Schuldenbremse“.

Das ist ein Argument der Befürworter einer Schuldenbremse.

Der Staat soll handlungsfähig bleiben, um den Kapitalismus zu schützen. Ein Staatsbankrott gefährdet diese Handlungsfähigkeit. Ein Staatsbankrott gefährdet den Staatsschutz für das kapitalistische Regime. Deshalb soll gespart werden.

Aber für wen stellt der Staatsbankrott eine Gefahr dar? Zunächst für die Vermögenden und die Banken, die ihre Staatsanleihen nicht bedient bekämen. Sie würden ihr Vermögen verlieren. Auch für die Unternehmer wäre der Staatsbankrott sehr schlecht. Ihre Geschäfte beruhen auf Kredite, die dann nicht mehr vorhanden wären. Beide Klassen des Kapitals fürchten einen Staatsbankrott, weil dies eine Entwertungsspirale ihres Kapitals bedeuten würde. Zudem fürchten die vermögenden Klassen, ein bankrotter Staat könnte ihre Existenzbedingungen nicht länger schützen.

Das „Wir“ in der These 3 ist ein Irrtum. Nicht „wir müssen eine Schuldenspirale mit der Gefahr eines Staatsbankrotts verhindern“, sondern ihr seid es, ihr die besitzenden Klassen, die zum Schutze ihrer Klasseninteressen einen Staatsbankrott verhindern wollen. Das „Wir“ ist ihr ideologisches Mittel, um ihr Klasseninteresse in ein allgemeines Volksinteresse umzumünzen. Diese Münze ist eine Fälschung. Mit dem „Wir“ wollt ihr uns die Kosten aufbürden, die durch die Verhinderung des Staatsbankrotts anfallen.

Irrtum 4: „Schuldenbremse = Sozialstaatsbremse. Es droht ein sozialer Kahlschlag.“

Das sagen die Gegner der Schuldenbremse.

In dieser These stecken gleich mehrere Irrtümer, die zum Teil bereits aufgedeckt sind:

  1. Die Schuldenbremse bremst nicht eigenständig. Sie formuliert das Interesse der besitzenden Klasse nach einer Stabilisierung ihrer Verhältnisse. Das Interesse wird als juristischer Sachzwang verkleidet. Die Schuldenbremse vernebelt das Interesse, ohne es selbst zu schaffen.
  2. Wenn die Schuldenbremse nicht eigenständig bremsen kann, dann kann sie aus sich selbst heraus auch keine Sozialstaatsbremse sein. Ein sozialer Kahlschlag findet derzeit in vielen Ländern statt, ohne dass dort eine Schuldenbremse installiert wäre.
  3. Die Schuldenbremse enthält die formalistische Regel, den Staatshaushalt weitgehend auszugleichen. Damit ist nicht gesagt, wie das passieren soll. Der Klassencharakter des Staates, nicht die formalistisch ausgerichtete Schuldenbremse, bestimmt die Art der Sparmaßnahmen. Wo im Staatshaushalt gekürzt wird, ist eine Klassenfrage, keine formelle Rechtsfrage.

Irrtum 5: „Die Schuldenbremse ist notwendig, damit wir nicht auf Kosten unserer Kinder / Enkel leben.“

Das Generationenargument ist zentral für die Befürworter der Schuldenbremse.

Die Schuldenbremse sei „schlichte Notwendigkeit“, rechtfertigte Schleswig-Holsteins Finanzminister Rainer Wiegard (CDU) die Aufnahme der Schuldenbremse in die eigene Landesverfassung. „Niemand, keine Regierung, kein Parlament, nicht einmal Eltern oder Großeltern, haben das Recht, noch nicht geborene Generationen mit Schulden zu belasten, damit sie sich heute einen angemessenen Lebensstandard leisten können.“

Was sind Staats-Schulden? Staats-Schulden sind Zins- und Rückzahlungsverpflichtungen zugunsten derjenigen, die dem Staat Geld geliehen haben. Den Staatsschulden stehen Guthaben in exakt der gleichen Größe gegenüber. Guthaben und Schulden saldiert sich zu Null. Ein verschuldeter Staat vererbt nicht nur seine Schulden, sondern auch die entsprechenden Forderungen. Das ist ein Nullsummenspiel bezogen auf die jeweilige Generation. Da wird nichts in die Zukunft verschoben. Verschoben wird nur das Klassenverhältnis. Denn die reichen Kinder von heute, die unter anderem die Staatspapiere ihrer Eltern vererbt bekommen, werden als Kuponschneider von der täglichen Arbeit künftiger Lohnabhängiger leben.

Würde man die Schulden beseitigen, dann wären auch die entsprechenden Forderungstitel ungültig, ohne dass die Gesellschaft wirklichen Reichtum verlieren würde. Die Gütermenge wäre davon nicht betroffen. All die Waren, die der Staat heute verbraucht, kann er nur dem heute zur Verfügung stehenden Reichtum entnehmen. Da der Staat durch einfache Verschuldung nicht von der künftigen Produktion leben kann, ist es unmöglich, dass er die künftige Generation auf diese Weise belastet.

Wenn der Staat durch Schuldenaufnahme mehr Güter verbraucht, dann müssen umgekehrt andere in der Gesellschaft weniger verbrauchen. Anders formuliert: Die Aufteilung des neu produzierten Reichtums zwischen Staat und Gesellschaft setzt den Reichtum als gegebene Größe voraus. Es kann nur das verteilt werden, was da ist. Der Reichtum späterer Generationen lässt sich nicht heute schon durch das Schuldenmachen verbrauchen.

Das „Generationenargument“ ist ein Täuschungsargument. Es soll die Seelen der Elterngenerationen einfangen, um deren Widerstand gegen das Sparen moralisch zu brechen.

Irrtum 6: „Die Staatsausgaben sind explodiert, weil wir über unseren Verhältnissen gelebt haben.“

Das ist ein Argument der Befürworter der Schuldenbremse.

„Der Schuldenstand der öffentlichen Hand in Deutschland ist zwischen 1970 und 2009 um sage und schreibe 2.539 Prozent gewachsen“, rechnete Hessens Finanzminister Dr. Thomas Schäfer (CDU) zur Rechtfertigung der Schuldenbremse vor. „Diese unglaubliche Zahl dokumentiert eindrucksvoll, dass wir alle, Bund, Länder und Gemeinden, jahrzehntelang über unsere Verhältnisse gelebt haben.“

Die Explosion der Staatsschulden war aber keineswegs eine Konsequenz des zu üppigen Lebensstils der breiten Masse der Gesellschaft. Die Staatsschulden sind explodiert, weil wir eine große Krise hatten. Nicht ein Zuviel an Konsum, also eine Knappheit von Gütern, lag der Krise zugrunde, sondern umgekehrt. Der Konsum war zu gering im Vergleich zur Produktion. Die Krise war eine Überproduktionskrise, keineswegs eine Überkonsumtionskrise.

Es war genau umgekehrt, wie behauptet wird. Weil wir wegen der niedrigen Einkommen gezwungen waren, unter unseren Verhältnissen zu leben, kam es zur Krise und die Krise führte zu einer Explosion der Staatsschulden.

Die Explosion der Staatsschulden kam zustande, weil der Staat das Kapital vor der Entwertung schützte. Das war eine klassenspezifische Verschuldung. Das hat nichts damit zutun, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt hätten.

Auch die hohen Exportüberschüsse sagen, dass „wir“ mehr produzieren als wir konsumieren und investieren. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass wir nicht über sondern unter unseren Verhältnissen leben.

Es verhält sich genau anders herum, als die Irrtums-These 6 behauptet. Nicht Knappheit, nicht Konsumverzicht (=Sparen) ist das Problem, sondern das Zuviel an kapitalistisch produzierten Waren. Dieses Zuviel an Gütern ist eigentlich eine prima Sache. Wir könnten diese Fülle des Reichtums genießen. Aber die kapitalistische Seite der Ware verhindert das. Die Eigentumsschranke verschließt uns den Reichtum. Die Eigentumsschranke verhindert, dass wir uns die Früchte unserer Arbeit in vollem Umfang aneignen. Es ist noch schlimmer: Das kapitalistische Eigentum verhindert, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit auf alle arbeitsfähigen Köpfe und Hände verteilt wird. Arbeitslosigkeit ließe sich ohne kapitalistisches Eigentum sofort beseitigen. Stattdessen produziert das kapitalistische Eigentum Arbeitslosigkeit, prekäre Verhältnisse, krisenhafte Zerstörungen.

Irrtum 7: „Die Aufnahme der Schuldenbremse in die Verfassung ist notwendig.“

Nein! Die Schuldenbremse ist überflüssig, sie ist illusionär, sie ist formalistisch. Sie verschleiert Interessen, indem sie diese als Sachzwang ausweist. Sie unterstellt eine Planbarkeit der Schulden. Sie will aber nicht die Ökonomie planen, deren Katastrophen die Schuldenkrisen verursacht haben. Die Kritik der Schuldenbremse kann nur der Ausgangspunkt für eine umfassendere Kritik sein. Der Kapitalismus selbst, als die Voraussetzung der Schuldenbremse und als das Ziel, das stabilisiert werden soll, muss thematisiert werden. Hier darf es keine Zurückhaltung geben. Die Kritik der Schuldenbremse muss eine Kritik der Verhältnisse einschließen, die eine solche Schuldenbremse benötigen.

Dieser Aufsatz entstand aus einem Vortrag, den ich (Günther Sandleben) am 3. März 2011 in Kassel unter dem Titel: „Schuldenbremse – Kapitalistisches Krisenmanagement als Krise der Politik“ gehalten habe. (http://www.guenther-sandleben.de)