Als Schafe unter den Wölfen

Eine alte Botschaft der Bibel: die armen Reichen

Materialistische Bibelinterpretation - dies ist ein programmatisches Schlagwort, das seit einiger Zeit durch die theologische Diskussion geistert. Gemeint ist der Versuch in der Bibelauslegung konkret zu werden, die sinnlichen Erfahrungen und Kämpfe der Menschen in der Bibel ernstzunehmen.

Bürgerliche Theologie hat eine antimaterialistische Tendenz: Sie ist auf überzeitliche Wahrheiten aus und muß darum ihre eigene Tradition enthistorisieren. Die Botschaft gilt, so hörte man immer wieder, "dem" Menschen vor Gott; ob er in der Lage ist, sich Essen für den nächsten Tag zu kaufen oder nicht, das spielte keine Rolle; warum dieser idealistisch-abstrakt vorgestellte Mensch am Sabbat Ähren ausraufen mußte, darüber erfuhr man nichts. Rechts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen spielen in solcher idealistischen Exegese nur eine unbedeutende Rolle.

Gewiß, man hat den Widerspruch zwischen dem armen Mann aus Nazareth und dem, was daraus geworden ist, der kirchlichen Tradition, gesehen, aber auch er wurde zumeist idealistisch gedeutet, etwa als der Gegensatz von Geist und Institution, von dem Reich Gottes, das Jesus erwartet, und der Kirche, die dann kam. Aber ist es dieser Gegensatz, der das Verständnis Jesu so schwer macht?

Vergessene Worte

Eine der wichtigsten Neuerscheinungen dieses Herbstes zum Thema Jesus sieht die tiefste Schwierigkeit an einer anderen Stelle - in der Frage von Armut und Reichtum: Luise Schottroff /Wolfgang Stegemann: "Jesus von Nazareth - Hoffnung der Armen", Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1978, 164 S., 12,- DM. Wie kommt es, daß die soziale Botschaft Jesu praktisch fast total wirkungslos blieb? Ein vergessenes Wort: "Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat." (Lukas 3, 11) Vergessen auch die radikale Aussage: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon." (Matthäus 6, 24) Die Schärfe und Ausschließlichkeit Jesu wird gern übersehen: "Es ist leichter, daß ein Kamel durch, ein Nadelöhr hindurchgeht, als daß ein Reicher ins Reich Gottes kommt." (Markus 10, 25) Wohlleben und Hunger war für die frühe Jesusbewegung entscheidend.

Damit ist ein anderes, neues Stichwort einer materialistischen Hermeneutik gefallen, die Gruppe um Jesus, die Jesus people. Die heutige Fragestellung interessiert sich nicht so sehr für die Rekonstruktion des "historischen Jesus" als für die älteste Bewegung um ihn herum. Jesu früheste Anhänger haben zu der Klasse der Ärmsten der Armen gehört, sie waren buchstäblich vom Hungertod bedroht. Viele von ihnen gehörten der nicht-seßhaften Bevölkerungsgruppe an, der verarmten Landbevölkerung, deren Los schlimmer war als das der antiken Sklaven, die von Arbeitslosigkeit nicht bedroht waren. Wie die arbeitslosen Tagelöhner im Gleichnis warteten sie darauf, daß der Besitzer des Weinbergs ihre Arbeitskraft wenigstens für ein paar Stunden kaufte. Auf Grund ihrer Armut waren sie ungebildet. Es waren "kleine Leute", und es war ein Gott der "kleinen Leute", von dem Jesus sprach.

Die Absicht der Verfasser - einer Theologieprofessorin aus Mainz und eines Heidelberger Pfarrers - ist, Jesus und seine frühesten Nachfolger in ihrer sozialen Umwelt darzustellen. Es sind historische Ergebnisse, die mit Hilfe des wissenschaftlichen Instrumentariums der modernen Kritik gewonnen sind. In komplizierten Analysen wird die Überlieferung der Evangelien auf ihren konkreten Inhalt hin befragt und in den sozialgeschichtlichen Zusammenhang Palästinas gestellt. Das wirft ein aufregend neues Licht auf die Jesus-Nachfolge.

Für die Jesusleute war ihr „Meister" der Anfang eines neuen Lebens. Er hat die Armen selig gepriesen. Denn jetzt sollten sie an der Reihe sein. Die soziale Wirklichkeit, so glaubten sie, würde nun umgekehrt. Die lachenden und satten Reichen werden leer ausgehen, die weinenden und hungrigen Armen werden mit Gütern gesegnet. Das Magnificat prophezeit den Reichen Enteignung; Aussagen von dieser Radikalität wurden erst später, als andere Gruppen zur Jesusbewegung stießen, abgeschwächt und verharmlost; noch später und unter Kämpfen setzte sich die Meinung durch, dass es genüge, wenn die Reichen ihre Gesinnung wandeln und ein distanziertes Verhältnis zum Geld aufbrächten.

Das praktische Interesse dieses - wissenschaftlichen Buches ist der Versuch, sich das Leben der Nachfolge Jesu so genau, so konkret wie möglich vorzustellen. Was hat die Nachfolge Jesu für die Alltagserfahrung der kleinen Leute bedeutet? Inwiefern war ihr Leben nun verändert gegenüber dem Leben, das sie vorher führten? Jesus war ihre Hoffnung und gab ihnen Mut und Kraft mit ihrem täglichen Elend fertig zu werden. Ein soziales Programm konnten sie freilich nicht anbieten. Sie dachten sich die Sache ganz einfach: Die Reichen haben ihr Stück Lebensqualität gehabt, jetzt sind die Armen dran. Zu kritischen Analysen und politischen Vorschlägen waren sie viel zu ungebildet, krank und ohnmächtig.

Sie leben gefährlich

Es ist spannend zu verfolgen, wie sich diese Botschaft für die Armen in den verschiedenen Quellen des Neuen Testamentes verwandelt. Der Weg führt durch drei Stadien der Jesusbewegung von den Ärmsten, die krank und hungernd auf den Straßen Palästinas dahinvegetieren zu den Jüngern, die freiwillig auf ihren Besitz verzichteten und ihren Beruf aufgaben, bis zu einer dritten Phase, in der auch die Reichen Anschluss an die Jesusbewegung fanden. Mit dem (keineswegs unaktuellen) Problem konfrontiert, wie man denn reich und doch Christ sein könne, versuchte die Bewegung, widergespiegelt bei Lukas, in einer solidarischen Gemeinschaft den Ausgleich zwischen den Bedürftigen und den Reichen herzustellen. Dass die Reichen „gefährlich leben" und Gottes Reich verfehlen, bleibt biblisches Thema.

Das sehr klar geschriebene Buch zieht unmittelbar keine Konsequenzen aus dem, was den armen Christen in der Welt geschieht und wie die Nachfolge Jesu heute zu leben sei. Wie Schafe leben die Christen unter den Wölfen - dieses Thema wird hier nicht, wie so oft in gegenwärtiger Diskussion, auf die Frage der Gewaltanwendung gebracht, sondern auf die zentrale materielle und politische. Reich sein heißt ein Wolf sein. Jesu Botschaft gilt nicht überzeitlich und klassenneutral allen, sondern spezifisch den Armen. Um diesen ärgerlichen Befund kann man sich nach diesem Buch nicht mehr herumdrücken. Wird die Christenheit eine lukanische, eine solidarische Lösung finden?

Dorothee Sölle in DIE ZEIT vom 22.12.1978