Autor: Martin Block, Göttingen
I Hinweise zum Gleichnis und zur Fragestellung
Das Gleichnis von den Talenten ist ein Endzeitgleichnis. Es soll zeigen, wer Gott ist bzw. wie der Gegensatz Gott-Welt biblisch gesehen wird. Es geht nicht in erster Linie um die Fähigkeit und die Belohnung der Menschen für ihre Fähigkeiten. Es geht nicht in erster Linie um die Faulheit und den fehlenden Wagemut der Menschen. Der harte, ungerechte Herr des Gleichnisses ist - in unserer Auslegung - nicht der Gott der Juden und der Christen. Er ist der Fürst dieser Welt oder besser: der Unterwelt, der dem gibt, der schon hat und dem, der kaum mehr was hat, das wenige auch noch wegnimmt. Wir möchten diese andere, wenn auch nicht völlig neue Interpretation aufzeigen, nachvollziehbar machen, wir wollen aber auch die Befreiung deutlich machen, die sich aus dieser Interpretation ergibt. Es sind unendlich viele Verrenkungen und Verbiegungen nötig, wenn die traditionelle Auslegung "Jeder ist seines Glückes Schmied" und "Wachstum hat kritiklos den Vorrang" die Oberhand behält und theologie- und kirchenbildend wird, wie das ja leider jahrhundertelang der Fall war und immer noch der Fall ist.
Das Gleichnis von den Talenten steht bei Mt und bei Lk. Es entstammt insofern nicht der synoptischen Tradition, sondern einem Sondergut, das von Mt und Lk unabhängig voneinander rezipiert und verwandt wurde. Eine Beeinflussung von Mt durch Lk ist unwahrscheinlich, da Mt zumeist vor Lk datiert wird.
In der exegetischen Literatur ist die Auslegung des Gleichnisses je nach theologischer Grundhaltung und Ausrichtung vorgenommen worden.
In der Scholastik im 4-fachen Schriftsinn (mit Schwerpunkt auf die Allegorese, also der bildhaften Auslegung). Bei Luther im 1-fachen, literalen Sinn (nicht als "Verbalinspiration" mißzuverstehen, sondern eher als Selbstauslegung der Schrift nach der hermeneutischen Grundregel "Was Christum treibet"). Bei Harnack als Hinweis auf das relativ unproblematische Zusammengehen von univeraler Kultur und singulärer Religion. Bei Albert Schweitzer in konsequenter Eschatologie als bereits jetzt hereingebrochenes Gottesreich, das eine Entscheidung fordert. Bei Barth als das rational nicht nachvollziehende, aber eben auch nicht rein supranaturalistische Ereignis des Wortes Gottes. Bei den Hermeneutikern nach dem II. Weltkrieg (vor allem Ebeling und Fuchs, aber auch Mostert) steht im Vordergrund das existentiell-individuelle Sprachereignis in der Begegnung mit Gott, nicht gänzlich ohne kontextuelle Bezüge.
Worauf wollen wir in unserer Interpretation hinaus? Auf die Kontextualität dieses biblischen Textes. Kontextualität damals zu Zeiten des Matthäus, Kontextualität heute zu den Menschen des Finanzkrisen-Showdowns. Im strengen Sinne ist Kontextualität mehr als sozialgeschichtliche Auslegung, wie sie von Theissen und Stegemann vertreten wurde und wird. Es ist nicht nur der soziale, politische und ökonomische Hintergrund, sondern auch die Frage, wie dieser Hintergrund entstehen konnte und wie genau sich Schrift und Kontext aufeinander bezogen und heute noch beziehen. Was genau heißt also "materialistisch" bzw. "materialistische Exegese"?
II Hinweise zur materialistischen Exegese
Materialistische Exegese ist eine Form oder Methode der (biblischen) Auslegung, die ihre theoretische Grundlegung und historische Vorläufer grundsätzlich in jeder Form materialistischer Weltdeutung haben könnte. Haben könnte, sage ich, weil das eben das gar nicht der Fall ist, wie ich später noch ausführen werde. Es geht um eine bestimmte Form des Materialismus, die eben nicht von vornherein religiös unkompatibel sein muß. Meist aber wird es so gesehen, daß auf der einen Seite der weltliche, sündhafte Materialismus steht, auf der anderen Seite der reine und geistige Christenmensch, von mir auch Moslemmensch oder generell religiöse Mensch.
Erinnert sei an philosophische Materialisten der Geschichte wie Thales von Milet mit dem 4-fachen Grundstoff, aus dem die Welt entstanden ist und aus der sie alle Zeit bestehen bleibt: Feuer, Luft, Erde und Wasser. Ein Schelm, wer da an Esoterik denkt. Aristoteles war zu vielschichtig, um ihn auf einen eindeutigen Materialisten zu reduzieren. Aber die hohen, unerreichbaren Ideale des Plato erdete er doch ein wenig, vor allem die aristotelische Wirkungsgeschichte sah ihn so, relativ konkretistisch - oder wenn man so will in einer auch materialistischen Metaphysik. Schließlich die französischen Aufklärer um Diderot, d'Alambert und Voltaire, die im 18. Jahrhundert schulbildend Materialismus mit Atheismus oder Agnostizismus verbanden. Aus den Materialisten wurden die "Gottlosen," die Zersetzer und Renegaten, eine Zuordnung, die bis dato vor allem den Juden in Europa geschah.
Was jedoch ist all diesen Spielarten des Materialismus gemeinsam? Man könnte lang und breit darüber verhandeln und Analogien und Gegensätze herauslesen und aufstellen. Für meine Begriffe sind all diese Spielarten nicht dialektisch oder eben nicht dialektisch genug. Es gibt in jedem Materialismus den Gegenspieler "Idee" oder "Geist". Für meine Begriffe hat aber erst Marx beides in dialektisch ausreichender Strenge aufeinander bezogen und zugleich diesen Gegensatz als grundsätzlich aufhebbar deklariert. Worin aufhebbar? In der Revolution, in der Umwerfung aller Verhältnisse, worin der Mensch ein geknechtetes, ausgebeutetes und verächtliches Wesen ist und sein muß. In der Befreiung des Menschen aus seinen zwangsweise selbstgewählten Bedingungen und Unmöglichkeiten, aus seinem gesellschaftlichen Gefängnis, das Marx über Kant und Hegel hinaus außerordentlich scharf sah und - zumindest theoretisch - zerlegte.
Es geht - kurz gesagt - in materialistischer Exegese um die sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, Kontexte eines Textes, mehr noch der Situation des Schreibenden, derer, über die geschrieben wird und eben auch der Lesenden und daraufhin Glaubenden und Handelnden. Nun wird weder der Schreibende noch der Lesende auf eben diese Kontexte reduziert. Eben auch nicht bei Marx - obwohl ihm das in der vor allem bürgerlichen Rezeptionsgeschichte beständig und mantrahaft vorgeworfen wurde und wird. Es geht eben nicht um Reduktion, auch wenn Marx manchmal selber dazu Anlaß geben konnte, insofern ist das bürgerliche Mantra gar nicht immer unberechtigt. Aber Marx ist Dialektiker durch und durch - und sieht den Gegensätzen bei ihrer Zuspitzung zu. Hegels Zu-Sehen und Hegels Zu-Tat hat Marx verinnerlicht und als Theorie der Praxis wieder nach außen gebracht. Es ist ein dialektischer Marx, den materialistische Exegese zum Kronzeugen macht, ein Marx, der um die fundamentale Bedeutung von geistigen, kulturellen, ja sogar religösen Prozessen weiß. Es ist der Marx der undogmatischen, beweglichen und lebensbejahenden Leser und Streiter. Ein Marx, der um Psychoanalyse und theologische Religionskritik erweitert wird, der aber eben nicht vergessen wird oder vermeintlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehören soll. Letztlich ein Marx, der genauer als üblich gelesen werden soll und der von seinen eigenen naturalistischen und chauvinistischen Schlacken befreit und gereinigt werden soll.
Ist das nicht immer noch Hagiographie, Heiligengeschichtsschreibung? Ich glaube nicht, denn ein solcher Marx steht Befreiungsbegegnungen nicht nur nicht entgegen, sondern fördert sie, initiiert sie, fordert und fördert - aber in einem ganz anderen Sinne als die Hartz-IV-Notverordnungen.
III Schlußfolgerungen
Für unser Gleichnis: wer spricht, zu wem wird in welchen Verhältnissen warum mit welchen Inhalten gesprochen? Wer ist der Herr, wer sind die Knechte, wer tut was zu welchem Zeitpunkt? Wer kommt gut weg, wer nicht, warum nicht, zu welchem Ende?
Die Schlußfolgerung ist dann die, daß der Herr des Gleichnisses wohl kaum der Gott des jüdischen Exodus, der jüdischen Befreiungsbewegung sein kann. Er wehrt sich ja noch nicht einmal dagegen, als harter und gefühlloser Herr bezeichnet zu werden. Wäre der harte Herr nicht genau das, was Bonhoeffer mit "blindem Schicksal" benannte? Ein Schicksal, das uns in diesen Tagen einmal mehr schrecklich unmenschlich, hartherzig und völlig unverständlich zu begegnen scheint, in der totalen Krise dieser Welt, von der die "Theologie der Krise" in den 20er Jahren offenbar nur einen Ausschnitt mitbekam, mitbekommen konnte. Nein, der jüdische und dann auch christliche Gott ist ein anderer. Einer, der sich gegen den irren Zwang zum Wachstum wendet, der die Menschen um ihrer selbst willen liebt und nicht wegen ihrer Fähigkeiten oder Opfer. Der ein Gott der bedingungslosen Liebe ist, einer Liebe, die man nicht erklären kann, die man aber sehr wohl spüren und genießen kann und darf. Von ihr leben darf und so auch kann.
Bleibt man damit nicht negativ dialektisch? Nun, man weiß, wie Gott es nicht will, aber wie will er denn die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Politik? Mit Geld, ohne Geld, überhaupt Wachstum, wieviel Wachstum, wie soll die Organisation dieses menschlichen Wachstums aussehen? Geht es über das Zinsverbot - oder ist das nicht wieder tendenziell antisemitisch, weil mit dem Zins indirekt auf die geschichtlichen Zinsverwalter, eben jüdische Wechsler im Mittelalter, angespielt wird? Über Tauschringe, Umsonstläden, food-coops, Weltläden, die es gar nicht so selten gibt in unserem Land und anderswo, die aber doch nur ein Schattendasein fristen? Über den "Green new deal", dem der Politologe Fülberth einen "Jugend- , Kinder- und Alten-Deal" sich anschließen sieht. Wohl auch nur die Marxische Verwertung des Werts, die Selbstauslegung des Kapitals. Ja, wir leben vom Kapitalimus - das ist ja die Katastrophe, um Walter Benjamin abzuwandeln, "daß es so weiter geht, ist die Katastrophe."
Was bleibt, was bleibt uns, Christenmenschen, Atheisten, Fragenden, Glaubenden, Hoffenden, Liebenden?
Zwei Sätze des wohl allen bekannten Politikers Gustav Heinemann aus den 60er Jahren, der ganz sicher nicht im Alter in die SPD eingetreten ist, damit diese Partei bald ein Mitglied weniger hat:
"Jesus ist nicht gegen Marx, sondern für ihn gestorben."
"Nun, man kann vielleicht nicht unmittelbar mit der Bergpredigt Politik machen, aber offensichtlich auch nicht ohne sie."