von Kuno Füssel
1. Zu Intention und Vorgehensweise der Denkschrift
Es gibt zwei Welten. Gemeint sind nicht Diesseits und Jenseits, sondern die Welt des Kapitalismus und seiner Plausibilitäten und die Welt ihrer Bestreitungen. Von diesem fundamentalen Gegensatz merkt man in der gesamten Denkschrift nur wenig, denn über den Kapitalismus wurde vorab der barmherzige Mantel der sozialen Marktwirtschaft gebreitet. Reichtum erscheint als Wohlstand, an dem alle beteiligt werden sollen. Der Klassenantagonismus und der daraus resultierende Klassenkampf, der zuerst immer ein Klassenkampf von oben ist, verschwindet hinter ethischen Appellen und der erklärten Absicht, zur Unternehmerschaft ein gutes Verhältnis zu etablieren. Dieses dominante Harmoniebedürfnis zieht den biblischen Texten ihren ökonomiekritischen Stachel.
Das Vorwort von Bischof Wolfgang Huber stellt daher schon mit dem ersten Abschnitt unmissverständlich klar:
"Die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens hat zu unternehmerischem Handeln ein positives Verhältnis. Verantwortungsbereitschaft, Weltgestaltung, Unternehmergeist und das Engagement für das Gemeinwohl sind als Tugenden in der evangelischen Tradition fest verankert."(S.7)
Diese gewollte Positivität, die den Unternehmergeist zur Tugend erhebt, wobei offen bleibt, ob alle vier "Tugenden" eine innere Einheit bilden, prägt die ganze Schrift, die keine Gelegenheit auslässt, ermutigende Signale (Ermutigung ist das eindeutige Lieblingswort der Denkschrift!) an die Unternehmerschaft auszusenden und Lob zu spenden, wo immer es geht: "Die Denkschrift ermutigt zu unternehmerischem Handeln als einer wesentlichen Quelle für gesellschaftlichen Wohlstand. Die kreative Entwicklung neuer Produkte oder Dienstleistungen und ein kluger Umgang mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen gehören zu den Tugenden, die unternehmerisches Handeln auszeichnen. Dies unterstreicht die Denkschrift deutlich."(S.8)
Vorhandene Spannungen werden nicht geleugnet, doch an ihre Stelle soll Entspannung und vertrauensvolles Miteinander treten. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Doch Konflikte werden nicht dadurch zum Verschwinden gebracht oder vermieden, dass man sie erst gar nicht benennt. Immerhin wird aus der Theologie der Befreiung, ohne dass diese erwähnt wird, die "vorrangige Option für die Armen" übernommen. Nirgendwo jedoch werden die Implikationen und praktischen Konsequenzen dieser Option entfaltet. Wer die Entwicklung der Kirchen Lateinamerikas seit Medellin (1968) kennt, weiß dass diese Option ohne eine klare theologische Kapitalismuskritik und ohne entsprechendes politisches Handeln ein reines, frommes Lippenbekenntnis bleibt.
2. Der Umgang mit der Bibel
2.1 Wie wird das Verhältnis von Bibel und Ökonomie bestimmt?
Die biblischen Texte werden ausschließlich dazu benutzt, um abstrakte ethische Standards (Grundorientierungen und Maßstäbe), die auf individuelle Entscheidungen bezogen bleiben, abzuleiten.
"Eine evangelische Ethik unternehmerischen Handelns hat auch die Aufgabe, zur Herausbildung moralischer Achtsamkeit bei denen beizutragen, die jeden Tag Entscheidungen in Unternehmen zu treffen haben. Dafür hat die Bibel einen zentralen orientierenden Stellenwert. Ihre Gleichnisse und Bilder, die dort beschriebenen Erfahrungen und gesammelten theologischen Betrachtungen ergeben zwar keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für wirtschaftliche Entscheidungen. Sie prägen aber die Grundperspektiven des Lebens und damit auch die Maßstäbe des Handelns in wirtschaftlichen wie in allen Berufen. Im Folgenden sollen anhand biblischer Texte fünf solcher Grundorientierungen beschrieben werden" (Nr.25, S.33/34).
Die für mich gültige, zugleich hermeneutische wie auch heuristische Annahme, dass biblische Texte auch einen kategorialen Rahmen zur Analyse der damaligen und der heutigen (nicht nur ökonomischen) Wirklichkeit enthalten und ein Lektüreraster zur Decodierung sowohl spezieller Symbolwelten wie auch allgemeiner Sinnsysteme anbieten, wird von den Autoren der Denkschrift völlig ausgeblendet. Die Bildhälfte der Gleichnisse ist nach der obigen Hypothese jeweils auch eine reale Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse und bildet als solche ein eigenständiges Feld der Auseinandersetzung, für die sie selber schon die Ansatzpunkte für eine fundamentale Kritik liefert. Das Material in der Geschichte hat auch, aber nicht in erster Linie den Zweck der Illustration abstrakter Problemstellungen.
Natürlich kann die Bibel kein Bild des modernen Unternehmers und der kapitalistischen Unternehmen enthalten, weder im zustimmenden, noch im ablehnenden Sinne. Im zeitlichen Kontext der verschiedenen biblischen Schriften gibt es zwar Märkte, aber keine Dominanz einer wie immer gearteten Marktwirtschaft. Es kann daher in der Bibel weder Lob noch Tadel für die freie Marktwirtschaft oder die Empfehlung ihrer Domestizierung in der sozialen Marktwirtschaft geben. Doch viele Texte der Bibel beweisen einen klaren Blick für die Gefahren und oft auch verheerenden Folgen eines auf Gewinnmaximierung und Geldvermehrung, was etwas anderes ist als Bedarfsdeckung, ausgerichteten wirtschaftlichen Handelns. Dieser bis heute fundamentale Gegensatz zwischen Versorgungswirtschaft und Geldvermehrungswirtschaft, der schon Aristoteles bekannt war, spielt in der ganzen Denkschrift und daher gerade auch in ihrem bibeltheologischen Teil keine Rolle.
2.2 Welche biblischen Texte werden herangezogen
2.2.1 Förmlich ins Auge springt die Nichtbeachtung der Grundorientierungen, der Maßstäbe und der daraus folgenden konkreten Sozialgesetze der Tora sowie der eindeutigen und präzisen Kritik der Propheten an einer sich schamlos bereichernden Klasse, die z.B. beim Propheten Amos schnörkellos und scharf als Faulenzer ("Das Fest der Faulenzer ist vorbei". Am 6,7) bezeichnet wird. Dabei gibt es gerade hier schon seit langem wegweisende Darstellungen. Es werden ausschließlich Texte aus dem NT als Ausgangspunkt und Grundlage für die oben zitierte Intention und Vorgehensweise gewählt, wobei anzumerken ist, dass weder die Auswahl begründet wird, noch erwähnt wird, welche anderen ökonomisch relevanten Texte das NT enthält, und warum diese nicht heranzuziehen sind. Hier liegt ein doppeltes Begründungsdefizit vor. Bei den Auslassungen handelt es sich nämlich keineswegs um Nebensächlichkeiten, sondern um zentrale Problemstellungen. Darüber zu spekulieren, welche Chancen einer gründlichen Auseinandersetzung z. B. mit dem "ungerechten Mammon" und der Art seines Zustandekommens durch das Ausblenden der Geschichte vom Verwalter (=ökonomos) der Ungerechtigkeit , der kein "ungerechter Verwalter" ist, (Lk 16,1-13), verschenkt werden, bleibt jedoch ein müßiges Unterfangen. Entsprechend fehlt auch ein Verweis auf die Reichtumskritik in Lk 18,24-27. Statt dessen wird betont: "Reichtum wird keineswegs als Übel angesehen" (Nr.29, S. 39). Das Verhalten des äußerst "erfolgreichen" Unternehmers Zachäus in Lk 19,1-10 könnte ein gutes Paradigma eines Schadensausgleichs und einer Umverteilung von oben nach unten liefern. Haben die Autoren die Gefahr gewittert, dass man daraus die Forderung der Ächtung jeglicher Spekulationsgewinne ableiten könnte? Auch das Stichwort Habgier wird ängstlich gemieden. Dabei hätten sicher nicht nur die Empfänger von ALG II volles Verständnis für eine geharnischte Predigt gehabt. Der aktuelle Bankenkrach beweist jedoch, dass wir alle die Folgen der Habgier zu tragen haben und deswegen auch zu Recht fordern dürfen, dass sie geächtet wird.
2.2.2 Kommen wir zur faktisch vorhandenen Textauswahl. Die benutzten Texte sind kombiniert mit den fünf Grundorientierungen, die sich aus ihnen ergeben sollen:
a) Mt 18,21-35 wird der ersten Grundorientierung "Dankbarkeit für das erfahrene Gute" (Nr. 26 zugeordnet; b) 1 Kor 12 liefert die Basis für die zweite Grundorientierung: "Menschen sind verschieden und haben unterschiedliche Gaben." (Nr.27); c) für die Ableitung einer "klugen Haushalterschaft" als dritter Grundorientierung bilden Mt 25, 14-30 und Mt 20, 1-16 den erstaunlichen Ausgangspunkt und Impulsgeber (Nr.28); d) "das Verhältnis von geistlichen und materiellen Werten," die vierte Grundorientierung, wird abgehandelt am Beispiel von Lk 12, 16-21 und Lk 16, 19-31 (Nr.29); e) schließlich ergibt sich die fünfte Grundorientierung, die "Freiheit von der Sorge", aus Mt 6, 25-27, wobei aber die entscheidende Stelle (Lk 6,33: "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit…"), aus der allererst hervorgeht, warum die Freiheit von der Sorge weder bedingungsloses Gottvertrauen noch blauäugiger Optimismus ist, gar nicht mitzitiert wird (Nr.30).
Im Kapitel "Freiheit in Verantwortung" (Nr. 31ff.) wird dann noch zusätzlich auf Mt 22, 40 und Mt 7,2 hingewiesen.
2.3 Wie werden die benutzten Texte ausgelegt?
2.3.1 Bei der Herleitung der ersten Grundorientierung "Dankbarkeit für das erfahrene Gute" wird das Gleichnis vom sogen. "Schalksknecht" in Mt 18,21-35 behandelt. Das Gleichnis wird wie folgt zusammengefasst:
"In dem Gleichnis…bekommt ein Knecht, der in wirtschaftliche Not geraten ist, von seinem Herrn die Schulden erlassen. Anstatt aus Dankbarkeit für die Barmherzigkeit des Herrn nun selbst auch so zu handeln, schlägt er die Bitte seines bei ihm vergleichsweise gering verschuldeten Mitknechts um Schuldenerlass barsch ab. Am Ende muss er dafür selbst bitter bezahlen." (S. 35)
Sicher folgt auch aus dem Gleichnis, ähnlich wie bei der entsprechenden Vaterunser-Bitte, dass man bei der Vergebung von Schuld und dem Schuldenerlass die Goldene Regel in positiver Umformung anwenden sollte: Was du willst, dass man dir tu, das lass auch dem anderen zukommen. Doch in der Geschichte steckt bedeutend mehr. In den Versen 24 u.25 sowie 30 u. 34 wird uns die ganze Brutalität von Verschuldung und Schuldknechtschaft in der Antike und zur Zeit des NT vor Augen geführt. Dass diese Verhältnisse zu den Sozialgesetzen der Tora in einem krassen Widerspruch stehen, brauchte man dem jüdischen Zeitgenossen nicht lange zu erklären. Es ergibt sich aber auch für die heutigen Leser/Hörer die einfache Maxime: Schulden, die unbezahlbar sind, müssen erlassen werden. Dies ist eine zugleich ökonomische wie ethische Konsequenz aus der sog. Bildhälfte des Gleichnisses. Dass der böse Knecht sich dieser Einsicht verweigert, ist das Charakteristische seiner Bosheit, nicht die mangelnde Dankbarkeit. Diese Bosheit aber ist nicht nur moralisches Versagen, sondern identisch mit der Systemlogik der Schuldknechtschaft, gemäß der vom zunächst gütigen Herrn dann später sogar die Folter verhängt wird. Die Reziprozität des Schuldenerlasses trotz ungleicher Höhe der Schulden, d.h. ich erlasse den anderen die Schulden, so wie sie auch mir erlassen werden, ist im Kern eine Anweisung zur radikalen Veränderung der gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse und weit mehr als eine Individualnorm.
Zu welchem Schluss kommt die Denkschrift? "Das Gleichnis schärft die Wahrnehmung für die vielen Gaben, die uns unverdient mit auf den Weg gegeben werden. Dieser Hinweis ist eine heilsame Provokation in einer Unternehmerkultur, in der die Beurteilung nach der jeweils erbrachten Leistung eine zentrale Rolle spielt, in der Versagen zuweilen gnadenlos abgestraft wird und in der Erfolge häufig nur ganz bestimmten Personen und ihrem unternehmerischen Geschick zugerechnet werden" (S.35). Das ist, gelinde gesagt, schon eine verblüffende und erstaunlich abgehobene, die Debatte um Schulden und Verschuldung der letzten 30 Jahre völlig ignorierende Interpretation und Nutzanwendung des Gleichnisses.
2.3.2 "Die Charismenlehre des Paulus und sein Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern, die alle ihre Funktionen haben (1 Kor 12), macht deutlich: Menschen sind verschieden und haben unterschiedliche Gaben" (Nr. 27, S.36). Diese Erkenntnis ist in ihrer schlichten Allgemeingültigkeit sicher kein Streitpunkt; ebenso wenig die gezogene Schlussfolgerung, dass demnach das Leben in einer Gemeinschaft desto besser gelingt, je mehr jeder seine Fähigkeiten entwickeln und dann auch einbringen kann. Auf die Ebene eines Unternehmens übertragen heißt dies, dass eine faire Kooperation aller und die Wertschätzung der Fähigkeiten eines jeden den Erfolg des Unternehmens steigert: "Wertschöpfung kommt durch Wertschätzung zustande" (S.36). Nun wollte Paulus sicherlich weder ein die Klassengegensätze in einer Gesellschaft organologisch versöhnendes Gesellschaftsmodell, wie einst Menenius Agrippa es tat, anbieten, noch kann er als Vorläufer kluger Managementtheorien vereinnahmt werden. Ärgerlich wird die Übertragung aber dort, wo die Ausrichtung der verschiedenen Charismen an dem Zweck des Aufbaus der Gemeinde des Messias Jesus parallelisiert wird mit der Ausrichtung der unterschiedlichen Funktionen und Potenziale der Mitarbeiter eines Unternehmens auf den obersten Zweck der Gewinnmaximierung und der Konkurrenzfähigkeit. Die Botschaft des Paulus lautet, dass alle gleich wertvoll sind, weil alle "in Christus" sind und von seinem Geist durchdrungen gemeinsam am Aufbau der Gemeinde arbeiten. Die Botschaft der Unternehmensphilosophien lautet jedoch, dass die bestehenden Ungleichheiten, die sich in Einkommen und Mitbestimmung abbilden, durch Erzeugung eines imaginären Wohlbefindens in eine Optimierung des Profits verwandelt werden müssen. Nutzen ist nicht Heil und der "Leib Christi" keine Aktiengesellschaft.
2.3.3 Wer erwartet, dass die dritte Grundorientierung der "klugen Haushalterschaft" etwas mit effizienter Versorgung der Hausgenossen und Befriedigung ihrer Primärbedürfnisse zu tun hat, wird bitter enttäuscht. Als Bezugstext wurde das Gleichnis von den anvertrauten Talenten in Mt 25,14-30 gewählt, wo ein schwerreicher Mann auf Reisen geht und vorher seinen Knechten (Sklaven) abgestuft 5, 2 und 1 Talent Silber aushändigt. Im Text steht nicht so genau, was die Knechte damit machen sollen, doch der mit den 5 Talenten und der mit den 2 Talenten sowie die Denkschrift haben es auch ohne diese ausdrückliche Anweisung sofort begriffen: Es geht darum den Reichtum zu vermehren! Daher werden bei der Rückkehr des Vermögensbesitzers die beiden Knechte, die das Vermögen verdoppelt haben, belohnt und der dritte Knecht, der das eine Talent diebstahlsicher vergraben hatte, wodurch es allerdings auch keinen Zins brachte, wird bitter bestraft. Da könnte man zumindest die Frage stellen, wie es damals möglich war, ein Kapital zu verdoppeln, wenn man das Zinsverbot der Tora ernst nahm, also bei einer Kreditvergabe gar keinen Zins, erst recht nicht 100% nehmen durfte.
Natürlich bleibt dann nur noch die unternehmerische Tätigkeit, d.h. die Ausbeutung fremder Arbeitskraft z.B. auf den Latifundien oder im Seehandel oder bei großen Bauvorhaben. Um solche hinterlistigen Fragen zu unterbinden, stellt die Denkschrift schleunigst fest: "Hinter dieser Geschichte verbirgt sich kein Plädoyer für die höchstmögliche Rendite in kapitalistischen Wirtschaftssystemen. Das Gleichnis ruft vielmehr dazu auf, das Evangelium von der Güte Gottes nicht zu verbergen, sondern es weiter zu tragen und für alle fruchtbar werden zu lassen" (Nr.28, S.37). Dann lautet also die Parallele: Gott entspricht dem reichen Besitzer und das Evangelium dem anvertrauten Geld. Das ist schon befremdlich genug, wird aber völlig unverständlich, wenn man das Gleichnis zu Ende liest und wahr nimmt, dass der reiche Herr nichts dagegen hat, als eiskalter Ausbeuter eingestuft zu werden und den toragetreuen Knecht in die Finsternis verbannt. Wir dürfen dem Matthäusevangelium unterstellen, dass es sich in der Tora bestens auskannte und daher zu so einer Gottes-Parallele schlichtweg unfähig war. Wer zusätzlich diese Perikope als Kontrasttext zu der Gerichtsperikope in Mt 25,31-46 liest, und die entsprechenden Oppositionen herausarbeitet, wird feststellen, dass diese beide Matthäus-Texte eine Einheit bilden und zu einem Vergleich zwischen zwei antagonistischen Systemen aufrufen.
Die Denkschrift sattelt noch einen drauf und vereinnahmt auch noch zusätzlich das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg in Mt 20,1-16, in dem erzählt wird, erstens, dass alle, auch die schwer Vermittelbaren Arbeit bekommen und zweitens, dass alle am Ende den gleichen Lohn bekommen, was sowohl bei der Unternehmerschaft als auch bei der Arbeiterschaft damals wie heute auf Widerspruch stoßen dürfte. Wiederum demonstriert die Denkschrift, ihr Bemühen um Deeskalation und teilt mit: "Entgegen dem ersten Anschein ist dieses Gleichnis nicht als Handlungsanleitung für heutige Unternehmen zu verstehen, allen den gleichen Lohn zu zahlen; es illustriert vielmehr die offenen Arme Gottes auch für die, die als Letzte kommen" (S. 38). Die Forderung: Gleicher Lohn für alle, unabhängig von der Arbeitszeit!, wurde/wird wohl weder damals noch heute von ernstzunehmenden Interessenvertretern der Arbeiterschaft vertreten. Darum geht es nicht. Stattdessen hätte die Denkschrift auf die Forderung nach Mindestlöhnen einerseits und nach einem bedingungslosen Grundeinkommen andererseits eingehen können. Aber was nutzt hier der Konjunktiv. Übergehen wir einmal, dass der Text in der sog. Bildhälfte jeden Unternehmer provozieren muss und lesen wir ihn so, als ob hier die "Gewerkschaft" provoziert werden soll dadurch, dass der Grundsatz außer Kraft gesetzt wird, dass für gleiche Arbeit auch ein gleicher Lohn zu zahlen ist. Es geht nicht um wohlfeile Provokation, weder in der einen, noch in der anderen Richtung, denn der Text optiert dafür, dass jeder Mensch erstens ein Recht auf Arbeit hat und zweitens, dass diese Arbeit seine Existenz sichert. Wer nicht mehr viel arbeiten kann, weil er alt oder krank oder behindert ist, muss auch von der wenigen Arbeit, die er ausführen kann, leben können. Dieser Grundsatz hat Vorrang vor dem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit. Der biblische Text bringt also in die ethischen Maximen, die alle sinnvoll sind, eine Rangfolge, die von dem höheren Kriterium gesteuert ist, dass Gott will, dass der Mensch lebe: Gloria Dei, vivens homo, wie es Irenäus von Lyon als erster vorbildlich formulierte. Die Denkschrift sieht, dass die Bedarfsgerechtigkeit Vorrang hat vor der Leistungsgerechtigkeit, doch sie leitet daraus keine politischen Forderungen ab. Die Güte Gottes ist nicht abstrakt, sie ist konkret. Das hat Folgen für die Politik. Wenn man diesen ausweichen will, dann hat das Folgen für die Kirchen.
2.3.4 Bei der vierten Grundorientierung geht es um das richtige "Verhältnis von geistlichen und materiellen Werten". Sonderbar ist, dass zum Einstieg Reichtum und Wohlstand, also materielle Werte, gepriesen werden. Hinterhältig allerdings ist, dass Wohlstand und Reichtum dann als unhinterfragt, (wo kommen sie her, wem nutzen sie wirklich?) gut geheißen werden, wenn der Nutznießer, wie angeblich die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, sie als Segen Gottes interpretieren, dass sie aber als schändlich gelten, wenn man sie als Produkt der eigenen Leistung und als sanftes Ruhekissen für Konsum und Nichtstun interpretiert, wie der reiche Kornbauer in Lk 12, 16-21. Dessen Sünde war allerdings nicht das gemütliche Zurücklehnen, sondern das Horten von Getreide als Lebensmittel zwecks Manipulation des Marktpreises und damit die gezielte Erzeugung von Wucherpreisen. Dies ist allerdings kein Thema der wohlwollenden Denkschrift. Der Markt hat eben doch keine Selbstheilungskräfte. Deswegen musste der Ewige nachhelfen und hat den Spekulanten flugs zum Rapport bestellt.
Dann wird die Geschichte vom "reichen Prasser und Lazarus, dem Armen" in Lk 16, 19-31 bemüht, ohne dass wirklich heraus kommt, welche ideellen Werte denn nun profiliert werden sollen, es sei denn, man wertet großzügig die folgende Bemerkung in diesem Sinne: "Zum Verhängnis wird (dem reichen Mann), dass er den Armen vor seiner Haustür einfach übersieht, der an seinem Reichtum Anteil zu gewinnen sucht, und dass er die Weisungen des Gesetzes und der Propheten ignoriert"(S.39). Es ist schon eine Frechheit, dass dem Bettler unterstellt wird, er suche Beteiligung am Reichtum des Reichen. Der hatte einfach nur Hunger und Schmerzen. Haben die Tora und die Propheten etwa Teilhabe des Armen am Reichtum des Wohlhabenden und damit geistliche Werte verkündet? Sind soziale Gerechtigkeit und die Überwindung schreienden Unrechts "geistliche" Werte oder enthalten sie nicht vielmehr sehr konkrete und daher materialisierbare, radikale politische Anweisungen zur Überwindung der eben durch die Ungerechtigkeit erzeugten Kluft zwischen reich und arm, die auch "im Himmel" nicht mehr überwunden werden kann, wenn sie "auf Erden" unüberwindbar gemacht wurde. Das Konkrete determiniert das Abstrakte, nicht umgekehrt. Der Himmel ist nur die Widerspiegelung der den irdischen Verhältnissen eigenen, gottwidrigen Unvollkommenheit. Der Himmel ist die Chiffre für das, was an richtigem Leben im Bestehenden abwesend ist. Da hilft es noch nicht einmal etwas, wenn einer von den Toten aufersteht, um die Leute zum Umdenken und Umkehren zu bewegen.
2.3.5 In der letzten Grundorientierung wird schließlich "die Freiheit von der Sorge" gepredigt. Wir glauben der Denkschrift, dass sie sie sich hier nicht in zynischer Weise an die wendet, die ohnehin nur Sorgen um die Aktienkurse, ihr Körpergewicht und die Herausforderungen der Hautecouture haben. Der matthäische Jesus hat sich da aber auch wirklich missverständlich ausgedrückt. Spaß beiseite, es wird ernst, denn die Unternehmer werden ermuntert, bei ihren risikoträchtigen Investitionsentscheidungen nicht allzu ängstlich zu sein und ein gerütteltes Maß an Gottvertrauen aufzubringen. "Für unternehmerisches Handeln ist der Ruf zur Freiheit von der Sorge Herausforderung und Ermutigung zugleich. …Falsches Sicherheitsdenken, eine Ängstlichkeit, die jede Entscheidung um möglicher Fehler willen fürchtet, und rückwärtsgewandtes festhalten am einmal Erreichten kann sich nicht auf den christlichen Glauben berufen" (S.41).
Mit den "Lilien auf dem Felde" und den "Vögeln des Himmels" sind weder Sozialschmarotzer noch risikofreudige Unternehmer gemeint. Es geht doch eindeutig um die Alltagssorgen der Armen, der kleinen Leute, des Prekariats, oder wie immer die benachteiligten Volksmassen in aller Welt genannt werden mögen. Diese können sich nicht durch Abschluss von Versicherungen gegenüber jedem Risiko absichern. Doch Gott hat ihnen eine Universalversicherung angeboten, die jede Individualversicherung überflüssig macht: die Ausführungsbestimmungen für soziale Gerechtigkeit in der Tora, die sich fortsetzen in die Reich-Gottes-Predigt Jesu. "Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, dann wird euch alles andere hinzu gegeben werden", d.h. dann werden die den einzelnen bedrohenden Gefahren und Risiken gemeinsam und solidarisch gebannt. Die Gerechtigkeit des Reiches Gottes ist die einzig verlässliche und effektive "Allianz-Versicherung".
3. Kleines verwundertes Fazit
Wie geht die Denkschrift mit der Bibel um, der Bibel, nur vertreten durch einige Texte des NT, die allerdings wegen der Vernachlässigung des AT um ihre Substanz und Brisanz gebracht werden? Die Verwendung von Bibelstellen hat immer das gleiche Strickmuster. Die Akzeptanz der Denkschrift bei der Unternehmerschaft soll erzeugt und dann auch gefördert werden, indem die Schärfe der prophetischen Kritik an einer menschenfeindlichen Ökonomie und auch das Auftauchen konkreter Handlungsimperative in ökonomisch und politisch schwierigen und kontrovers deutbaren Situationen zum Verschwinden gebracht wird. Daher werden alle Härten in den Gleichnissen in universale und recht sanfte Orientierungshilfen umgemünzt, die sogar in der Unternehmensethik von Mercedes-Benz, einem Konzern, der Streubomben produzieren lässt, ungeniert Platz nehmen könnten. Die Denkschrift sagt etwas völlig anderes als die Bibel. Aber man wird nun sogar in Unternehmerkreisen der Bibel glauben, weil man sich in dem geborgen fühlt, was die Denkschrift sagt. So einfach und doch so wunderbar. Das Fest der Faulenzer scheint noch lange nicht vorbei zu sein.