Für einen Teil der Linken war der gerade zu Ende gegangene Weltjugendtag willkommener Anlaß sich wieder einmal mit der Kritik der katholischen Kirche und ihrer undemokratischen und freiheitsfeindlichen Verfassung auseinanderzusetzen. Dass das nach wie vor sinnvoll ist, ist unbestritten, selbst von vielen inzwischen nicht nur linken KatholikInnen.
Da, wo diese Kritik jedoch zur hauptsächlichen Auseinandersetzung mit Religion wird, geraten nicht nur die Begriffe Religion und Kirche durcheinander, sondern diese Kritik geht in ihrer Analyse m.E. auch am Zustand der Kirchen und der Bedeutung von Religion im guten wie im schlechten vorbei.
Schon den Weltjugendtag als eine bedeutende Machtdemonstration der Katholischen Kirche zu halten, ist eher eine Widerspiegelung der bürgerlichen Propaganda als eine Wahrnehmung der Tatsachen: Ersten waren weit weniger TeilnehmerInnen als erwartet gekommen und zweitens haben die Jugendlichen dieses Event eher für sich in Anspruch genommen, als sich in Anspruch nehmen zu lassen. Dass Rom seit dem Tod Papst Johannes II. glaubt, die Jugendlichen binden zu können, ist ein ebenso tragischer Fehlschluss wie die Annahme, dass die Katholische Kirche noch ebenso eine Bedeutung habe wie vor fünfzig Jahren. Beide Kirchen haben in den letzten Jahrzehnten mit Überalterung und Auswanderung zu kämpfen, vor allem aber damit, dass sich Menschen Religion aneignen, ohne sich der moralisch-verplichtenden Autorität zu beugen. Denn die allseits festgestellte Rückkehr der Religion ist gleichzeitig mit dem Bedeutungsrückgang traditioneller, institutionalisierter Religionsformen verkoppelt und das nicht zufällig. Letzlich wissen die Kirchen dies auch sehr genau, und versuchen deshalb, wie auf dem Weltjugendtag, vermeintliche religiöse Bedürfnisse von Jugendlichen für eigene Machtansprüche zu nutzen: Ein mehr als hilfloser Versuch!
Wenn man sich die strategischen Orientierungen beider Kirchen in den letzten Jahren anschaut, so lässt sich folgendes feststellen: Das Kerngeschäft der Kirche ist herkömmlich mit den Feldern Seelsorge, Mission und Caritas umschrieben. Die Entscheidungen über die Aufgaben der Kirche werden allerdings längst nicht mehr pastoraltheologisch, sondern betriebswirtschaftlich oder unter Marketingaspekten von Unternehmensberatungen und BetriebswirtschaftlerInnen gefällt. Bei ihren Modernisierungsbemühungen werden die Kirchenmanager von Unternehmensberatungen bestärkt, die ihr lobend konzidieren, dass ihre Marke stimme. Das mag Wasser auf die Mühlen derer sein, die naiverweise glauben, dass mit einigen Restrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen alles wieder ins Lot der Volkskirche gebracht werden könne. Aber mit dem stromlinienförmigen Umbau der Caritas in effiziente Sozialdienstleistungseinrichtungen, der sich in der Regel in Personalabbau, Gesundschrumpfen und outsourcen erschöpft, zielt man an den Erwartungen vieler Menschen, vor allem aber an den gesellschaftlichen Herausforderungen präzise daneben.
Gleiches gilt auch für das Feld religiöser Bedürfnisse: Die sind inzwischen entweder so individualisiert, dass sie sich dem gemeinschaftsverpflichtenden Charakter der christlichen Kirchen strukturell wiedersetzen, oder als neoliberal und marktorientiert gestimmte Bedürfnisse die Kirche als einen unter vielen Anbietern verstehen. Alles in allem sind die Kirchen eher hilflose Institutionen, die ihre Hoffnung darauf setzen, sich durch Modernisierung, Rationalisierung, sozusagen auf der Suche nach Nischen im Markt der religiösen und ethischen Bedürfnisse in die Zukunft retten zu können und sich gleichzeitig gegen Kritik fundamentalistisch abschließen.
Religionskritik in ihrer klassischen und eben immer auch schon verkürzten Formel - von Opium für das Volk - ist darüberhinaus ein eurozentrisches Residuum, das der Wirklichkeit weltweit kaum angemessen ist. Mit einer rigiden und allgemeinen Religionskritik wäre eine Linke in vielen Teilen dieser Welt nicht nur handlungsunfähig, sie wäre vielmehr undenkbar wie z.B. in Lateinamerika, wo ChristInnen verschiedenster Konfessionen eine bedeutsame Rolle in den sozialen und revolutionären Kämpfen spielten und immer noch spielen.
Dort, wie übrigens m.E. auch hier spielen allerdings zunehmend neue Formen von Religion eine Rolle, die bisher weder von einer kritischen Theologie noch von linker Analyse bedacht und verstanden worden sind: So z.B. charismatische Orientierungen oder der Neopentecostalismus und sein Synkretismus aus Elementen verschiedener traditionaler Religionen und Strukturen und Techniken moderner massenmedialer Kommunikation, marktvermittelter Weltbilder, Embleme und Logos. Die Theologie der Prosperität (finanzieller Erfolg als Beweis für Gottesfürchtigkeit), die Verwerfung jeder Leidensmystik und sein Rekurs auf Individualität und Selbstverantwortung spiegeln Elemente neoliberaler Subjektivität, ohne in ihr aufzugehen. Sein Gemeinschaftsaspekt ist jeglicher, vor allem auch sozialethischer Verpflichtung enthoben, und verkommt zur Eventproduktion in den Kulten und deren Höhepunkten, den Exorzismen. Seine Kulte haben deshalb auch einen nicht zu unterschätzenden Freizeitwert, der in der Vielzahl seiner marketingstrategisch klug positionierten und differenzierten Angebote im Markt der Möglichkeiten anders als die traditionellen Kirchen umstandslos mithalten kann und politisch rechts steht oder Abstinenz verkündet.
Diese Phänomene verweisen m.E. auch auf den eigentlichen Ort, den Religionskritik heute einzunehmen hätte: Die Kritik religiöser Elemente eines neoliberal strukturierten Kapitalimus, der explizit religiöse Phänomene hervorbringt, aber auch die Warenförmigkeit der Gesellschaft auf ihre vermeintlich lustvolle Spitze treibt:. Der Kapitalismus als Religion und echte Transzendenz stiftet Identität, er bietet Handlungsorientierung und Kontingenzbewältigung, er legitimiert die Macht und hat ein umfassendes Weltbild. Aber diese Funktionen sind nicht mehr wie einst sein schlechter Überbau, er steht vielmehr zu diesem religiösen Charakter der Warenwelt und er lebt davon: "Kultmarketing: Wir machen Produkte und Programme zum Erlebnis mit Wiedererkennungswert, schaffen Communities und sorgen für andauernde, trendsetzende Begeisterung." heißt es in der Werbung für eine event-agentur. Und für dieses Geschäft braucht er kaum noch die Kirchen.
Und die Linke: Sie braucht Religionskritik als Kritik der traditionellen kirchlichen Institutionen auch nur noch bedingt. Und praktisch schon gar nicht. Denn da geht es um Sozialabbau, Armutsentwicklungen, die Ausbeutung durch internationale Konzerne und Finanzmärkte und um die Frage, wie und mit wem das sich ändern läßt.
Michael Ramminger, Münster, 22. August 2005