Was ist eigentlich noch evangelisch an der Evangelischen Kirche in Deutschland?

von Ton Veerkamp (CfS)

I.

(1) Die Denkschrift Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive sieht die Gesellschaftsform in der Bundesrepublik als soziale Marktwirtschaft. Diese sei aus zwei Elementen aufgebaut; erstens der ordo-liberale Ansatz, in dem der Markt und seine Gesetzmäßigkeiten der entscheidende Parameter ist und zweitens eine umverteilende Sozialpolitik. Sie sei eine genuine Schöpfung der jungen Bundesrepublik Deutschland mit ihrem „Wirtschaftswunder“, die der gesamten Welt als Modell angedient werden kann: „ In dieser Form ist die Soziale Markwirtschaft zum Markenzeichen für das Bild Deutschlands in aller Welt geworden... Damit kann sich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Modell für die Stärkung der sozialen Dimension der Globalisierung entpuppen“ (53,57).

Es ist vom „deutschen Modell“ die Rede, das „alle Stakeholder - also alle Anspruchsgruppen, darunter insbesondere auch die Arbeitnehmer - in der Unternehmenspolitik systematisch berücksichtigen“ will, anders als ein Shareholderkapitalismus, der vor allem auf die Interessen der Aktionäre ausgerichtet sei (55).

Dies ist eine in manchen Kreisen gern geglaubte Geschichtslegende. Tatsächlich wissen wir, dass die Rücksichtsnahme auf die Arbeiternehmer in unseren Gesellschaften während der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erzwungen und erkämpft wurde. Das, was in der Bundesrepublik Deutschland soziale Marktwirtschaft genannt wurde, war eine Gesellschaftsform, die nach dem zweiten Weltkrieg überall in Nordamerika, in Nord-, West-, und Zentraleuropa herrschte und sich etwas später auch in Japan und Südeuropa durchsetzte. Sie war eine allgemeine Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, auf das Entstehen einer bipolaren Machtskonstellation, in der zwei Gesellschaftsformen einander diametral gegenüber standen, und auf die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung zu stark geworden war, um sie ohne die Errichtung einer Diktatur als politischen Faktor ausschalten zu können. Der verlorene Krieg und die starke Einflussnahme der Siegermächte auf die inneren Strukturen der Bundesrepublik hat der Bundesrepublik die „Soziale Marktwirtschaft“ aufgezwungen. Die Einbindung der Gewerkschaften in ein Konsensmodell war überall in den europäischen Gesellschaften westlich von der Systemgrenze ein wesentliches Element.

Anders gesagt: ein wesentlicher Faktor im Modell der Sozialen Marktwirtschaft war überall die soziale und politische Kraft der Arbeiterbewegung, die ein gesellschaftliches Gleichgewicht erzwingen konnte. Somit entstanden in Europa Gesellschaften mit verhältnismäßig geringem sozialen Stress (geringe Arbeitslosigkeit, keine Unterschicht, relative niedrige Kriminalitätsrate).

Typisch deutsch war dies alles nicht. Die breite deutsche Brust, die der Verfasserinnen und Verfasser der Denkschrift recht prahlerisch zeigen, ist fehl am Platze. Und es ist erst recht nicht die Aufgabe des Rates der EKD, die Geschichtslegenden der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zu kolportieren.

(2) Die auf Konsens beruhende Gesellschaftsstruktur in unseren Ländern ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert verloren gegangen. Wir haben seit dem Durchbruch neoliberaler Regulierung kein Konsensmodell mehr, sondern eine Kommandowirtschaft, in der sich die Arbeitgeberseite mit allen Mitteln, nicht selten mit nackter Erpressung, gegen die Beschäftigten durchsetzt. Die Politik verstand sich darauf, das Kommando der Kapitalseite gesetzlich zu verankern; letzteres firmiert unter dem Stichwort „Reformpolitik“.

Der dramatische Anstieg der Arbeitsproduktivität durch den Einsatz neuer Technologie seit den achtziger Jahren setzte sich nicht in einen Anstieg, sondern in einen relativen Rückgang der Masseneinkommen um. Es gibt immer mehr Menschen mit überdurchschnittlichen, aber noch mehr Menschen mit unterdurchschnittlichen Einkommen. Wir beobachten eine Erosion der Mittelgruppen, wir beobachten die Entstehung einer Unterschicht und wir beobachten eine Oberschicht, die dazu neigt, sich jeglicher Verantwortung für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt zu entziehen (Liechtenstein u.ä.).

John Rawls beschreibt die US-Gesellschaft unter der Regierung Clintons: „Doch angesichts der fehlenden Hintergrundgerechtigkeit und der Ungleichheit in Einkommen und Vermögen kann sich eine entmutigte und deprimierte Unterschicht bilden, die viele angehören, die auf Fürsorge angewiesen sind. Diese Unterschicht fühlt sich im Stich gelassen und beteiligt sich nicht an der öffentlichen politischen Kultur.“ Diese Beschreibung gilt auch für die Gesellschaften der Europäischen Union.

Die Denkschrift stellt die Entwicklung zu einer Rawlschen Gesellschaft als unvermeidliche Folge des „weltweiten Wettbewerbs um Arbeitsplätze und Investitionen dar“ (95), die Globalisierung verlange das zwingend. Unvermeidlich ist aber nicht die heutige Politik der Unternehmen und des Staates, unvermeidlich allein sind die Folgen solches unternehmerischen Handelns und der entsprechenden politischen Absicherung seitens des Gesetzgebers. Die Rolle des unternehmerischen Handelns in der Neuen Sozialen Marktwirtschaft hat unter den Bedingungen der neoliberalen Deregulierungen („Reformen“) notwendig den Zerfall der Gesellschaft zur Folge, gleich ob das der einzelne Unternehmer will oder nicht: er kann nicht anders.

Es geht nicht um individualisierte Schuldzuweisungen an einzelne unethisch handelnde Unternehmer. Das Problem ist systemischer und universeller Natur. In allen Gesellschaften des Nordens konnten wir die gleichen Erscheinungen beobachten: Verslummung vieler Stadtviertel, Bildung jener „entmutigten und deprimierten Unterschicht“ mit ihren Folgen: zunehmender Verwahrlosung, steigender Kriminalität und steigender Häftlingszahlen - vor allem bei jungen Männern.

Die Idyllen der Denkschrift, ehrbarer Kaufmann, fairer Wettbewerb, Corporate Social Responsibility, zeigen, dass die Verfasserinnen und Verfasser der Denkschrift zwar auf der Insel seliger Neoliberaler, aber nicht in der Realität der Menschen leben, die in der ganzen Welt die Folgen einer nur den Gesetzen kapitalistischer Wirtschaftslogik folgenden Globalisierung ausbaden müssen, in Bombay, aber auch - sei es in völlig anderen, dennoch strukturähnlichen Dimensionen - in Berlin-Neukölln, Amsterdam-West, Paris-Malakov usw. In beiden Fällen haben wir soziale Exklusion; in immer mehr Vierteln gibt es immer mehr Menschen, für die Wirtschaft und Gesellschaft keine Verwendung mehr haben.

Das neoliberal deformierte Denken der Anhänger der Neuen Sozialen Marktwirtschaft sehen nur „Einzelne“; in ihren Gehirnen gibt es das Soziale nicht, es gibt nur die Summe der Individuen. Einige ethische Unternehmer mehr und die Welt sei besser.

Das Ganze, die Gesellschaft, ist mehr als die Summe der Individuen. Ist die Gesellschaft einmal gekippt und hat sich eine breite „entmutigte eine deprimierte Unterschicht“ gebildet, kann der einzelne Unternehmer daran nichts mehr ändern, so untadelig, fürsorglich und „ehrbar“ er sein Unternehmen auch führt, so verzweifelt sich auch Stadtparlamente mit ihren „Quartiermanagements“ gegen den Verfall ganzer Stadtviertel zu wehren versuchen.

In den USA, trotz größerer Anstrengungen in den sechziger Jahren (war against poverty, Great Society) ist es nicht gelungen, die Unterschichten zu integrieren und die Situationen in den Slums zu verbessern. Der riot summer 1967, Aufstände in 23 großen Städten mit über hundert Toten, markierte des Ende dieser Anstrengungen. Die Aufstände in den französischen Städten, November 2005, zeigen, wie sich die Zustände in der Europäischen Union „amerikanisiert“ haben.

Die Vorschläge des Kongressauschusses, den Präsident L.B. Johnson zur Untersuchung der Ursachen der Aufstände 1967 einsetzte, unterschieden sich nicht im Geringsten von den Vorschlägen, die eine französische Regierungskommission Anfang 2006 dem Parlament vorlegte. Wir wissen seit mehr als vierzig Jahren, was zu tun ist. Die EKD geht in ihren Denkschriften mit keinem Wort auf die Universalität des Problems der sozialen Exklusion ein.

(3) Der Rat der EKD will nun mit dieser Denkschrift die „Neue Soziale Marktwirtschaft“ als „unvermeidlich“ darstellen. Unvermeidlich sei die Lebensform, die sie unter dem Stichwort „Flexicurity“ anpreist. In Zukunft solle „zur Bewältigung der wirtschaftlichen Prozesse sowohl von Unternehmen als auch von abhängig Beschäftigten eine immer größere Flexibilität erwartet“ werden „und damit die Risiken für einen jeden steigen, im Laufe seines Lebens ohne eigenes Versagen aufgrund sich ändernder Anpassungsnotwendigkeiten wiederholt arbeitslos zu werden oder den Arbeitsplatz wechseln zu müssen“ (120). Als Trost wird „ausreichende Grundsicherung“ in Aussicht gestellt (Harz IV).

Die Kirche, die sich gerne zur Anwältin des ungeborenen Lebens und der Familie macht, verordnet mit ihrer Denkschrift den Menschen Flexicurity: ihnen ein Vagabundenleben und ihren Kindern Verwahrlosung.

Die Denkschrift ist nicht nur unseriös, sondern auch verlogen. Die leitenden Persönlichkeiten und Gremien der EKD haben sich dem Geist der Zeit - oder besser: dem „Gott dieser Welt“, 2Kor 4,4 - unterworfen, der Ideologie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Diese Ideologie ist sehr erfolgreich. Sie konnte sich in den leitenden Gremien der EKD und unter vielen hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern breit machen, weil es ihnen an einer wahrhaft evangelischen Theologie fehlt.

II.

(1) Die Aufgabe einer evangelischen Kirche ist es, das Wort Gottes für die Menschen zu verkündigen und verständlich zu machen in einer Weltordnung, in der sie leben müssen. Die real existierende Weltordnung ist der Raum, in dem das Wort gehört werden soll, und so bestimmt sie zwar die Art, in der wir reden müssen, aber nicht den Inhalt unserer Rede: aliter non aliud.

Die Weltordnung ist zwar der Ort, aber nicht der Maßstab. Im großen Gebet des Messias Israels sagt Jesus: „Sie (die Schüler) sind in der Weltordnung ...ich frage nicht, dass Du sie wegnimmst aus der Weltordnung, sondern dass Du sie bewahrst vor dem Übel. Aus der Weltordnung aber sind sie nicht, so wie ich nicht aus der Weltordnung bin“ (Joh 17,11; 15-16).

Für Johannes war das Römische Reich die Weltordnung. Die Gemeinde muss sich darüber klar sein, dass sie in der real existierenden Weltordnung lebt, sie muss aber nicht weniger deutlich wissen, dass sie sich nicht von der (römischen) Weltordnung, nicht von ihren angeblichen Gesetzmäßigkeiten her verstehen darf.

Deswegen darf sie niemals sagen, dass es zur real herrschenden Weltordnung keine Alternative gibt. Dann würde die Gemeinde nicht nur unter den Verhältnissen der Weltordnung leben, sondern auch von ihnen her und sie so zum alles entscheidenden Kriterium machen.

Weltkritik ist die wesentliche Aufgabe für eine Kirche, die sich evangelisch nennt und ihren Weg in den Fußspuren der Propheten und Apostel gehen will. Genau diese vom Evangelium geforderte Kritik der Welt lässt sich in dieser und vielen anderen Denkschriften der EKD kaum noch wiederfinden. Man kann nicht einmal eine gewisse Distanz gegenüber der herrschenden öffentlichen Ordnung entdecken; allenfalls Detailkritik lässt sich stellenweise auffinden.

Der niederländische Missionstheologe J. C. Hoekendijk hatte vor mehr als vierzig Jahren gefragt: „Ist es möglich, dass unsere Kirchen zu Häusern in Ägypten geworden sind?“ Die evangelische Kirche in Deutschland kann heute, so weit sie sich in ihren offiziellen Verlautbarungen zu erkennen gibt, nicht anders als „Haus in Ägypten“ genannt werden. Weltkritik ist der Anfang jenes Exodus, zu dem das Wort die Kirche ausrufen muss; sie muss daher ihre Aufenthaltsberechtigung in „Ägypten“ aufgeben. Das ist das negative Moment des Wortes Gottes.

(2) Wir sprechen den Namen Gottes nicht aus, wir sprechen nur dem Satz nach, mit dem Gott sich selbst zu erkennen gibt: „Ich bin es, der NAME, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten hinausführte, aus dem Haus des Sklaventums“, Ex 20.2. Was, wer Gott auch immer ist, für eine evangelische Kirche ist der NAME, der sich als Befreier aus dem Haus des Sklaventums zu erkennen gibt, allein Gott, keiner sonst.

Das ist das positive Moment des Wortes Gottes: dieser Gott wollte ein Volk, in dem niemand Herr ist, und niemand Sklave: „Nach dem Handeln des Landes Ägypten, wo ihr einmal wohntet, handelt nicht, nach dem Handeln des Landes Kanaan, wohin ich euch gebracht habe, handelt nicht“ (Lev 18,3). Israel sollte in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit, in seinem gesellschaftlichen Handeln, nicht wie seine Umwelt sein, nicht wie seine Vergangenheit (Ägypten) und nicht wie seine Gegenwart (Kanaan).

Diese Differenz zwischen Israel und den Völkern fasste es in den Zehn Worten („Zehn Geboten“) zusammen. Bis auf ein „Gebot“ - das „Ehren der Väter und Mütter“ - haben wir nur Verbote. Die Zehn Worte sagen uns nicht, wie wir leben müssen, sondern sie sagen uns, wie wir auf alle Fälle nicht leben dürfen. Sie lassen uns die Freiheit, unsere Probleme so zu lösen, wie es uns am besten erscheint unter der Bedingung, dass sich bei uns niemals „ägyptische“ Verhältnisse einschleichen, niemals Verhältnisse wie im Sklavenhaus, niemals „kanaanitische“ Verhältnisse, Verhältnisse des Großgrundbesitzes, wo der Baal, der „Besitzer“, Gott ist (1Kön 18,21; 21,1-16).

Das erste Gebot richtet sich gegen Ägypten und gegen Kanaan, gegen ihre Gesellschaftsordnungen, ihre „Götter“; es schließt kategorisch und kompromisslos alle Götter aus, die nicht befreien (Jer 11,12). Der Wille Gottes ist eine Gesellschaft von befreiten Sklaven, der die Akkumulation der Grundressource Haus in den Händen weniger Mitglieder der Gesellschaft kategorisch untersagt ist: „Begehre nicht das Haus deines Genossen“ (Ex 20,12, dazu Jes 5,8). Denn wo die Wenigen viel haben, sind die vielen Sklaven der Wenigen.

Die Zehn Worte, ja die ganze Tora, lässt sich zusammenfassen in den zwei Verboten: im Verbot des Sklaventums und dem Verbot der Akkumulation, und diese zwei wiederum im ersten Gebot, dem „theologischen Axiom“ schlechthin (K. Barth).

Israel hatte versucht, nach den Zehn Worten zu leben; oft genug ist es an dieser Aufgabe gescheitert, aber immer wieder haben Menschen in Israel die Stimme erhoben, um es an diese einmalige Aufgabe zu erinnern. Deswegen haben die Gesetzgeber Israels Haus und Boden, die Grundressource einer Agrargesellschaft, aus dem Marktmechanismus herausgenommen: „Das Land werde nicht verkauft“ (Lev 25,23). Nicht das einzelne positive Gesetz ist hier richtungsweisend, sondern der Sinn der ganzen Tora ist die Gesellschaft von befreiten Sklaven.

Wie wir das in unseren völlig anderen Welt verwirklichen müssen, sagt uns die Schrift nicht. Dass wir die Gesellschaftsstruktur der Autonomie (selbstbestimmtes Leben für jede Person) und Egalität (wirklich gleiche Zugangsmöglichkeiten zu allen Ressourcen der Gesellschaft für alle) verwirklichen müssen, ist ein unantastbares Gebot für eine Kirche, die sich evangelisch nennen will.

(3) Wir sind nicht die ersten, die die zerstörerischen Wirkungen einer Globalisierung von Politik und Wirtschaft erleben müssen. Der Hellenismus und dessen Testamentvollstrecker, das Römische Reich, bedeutete das Ende der Autonomie aller lokalen und regionalen Ökonomien, auch der Toraökonomie des jüdischen Volkes. Die Messianisten (griechisch: Christen) haben die Lösung dieses Problems in einer messianischen Weltrevolution gesehen. Alle wollten eine Welt, in der endlich Tora gelebt werden konnte, in der niemand Herr ist und niemand Sklave, nirgendwo, weder in Israel noch unter den Völkern. Wenn wir denn das Wort „Herr“ noch anwenden, dann gilt es nur noch für Jesus Messias (Christus); wenn Er der Herr ist, dann ist niemand anders mehr Herr als dieses Kind Israels, der nicht gekommen ist, „die Tora aufzulösen, sondern zur Vollkommenheit zu bringen“, Mt 5,17, nämlich als Perspektive für „alle Völker“ (Mt 25,31ff.; 28,19f.).

Deswegen hält die evangelische Kirche fest an den Verheißungen für Israel, die, so hofft sie, Verheißungen für alle Völker sind. Der Gang zu allen Völkern mit dieser ihrer Botschaft ist die Antwort der Weltkirche auf die Globalisierung, die römische Globalisierung damals, die neoliberale Globalisierung heute.

Die Kirche hat während ihrer langen Geschichte - meistens halbherzig und inkonsequent - an Tora, Propheten und den übrigen Schriften festgehalten, mit ihnen schickt der Messias auch jetzt seine Kirche unter die Völker. Das Wort, die ganze Heilige Schrift, ist für die Kirche der einzige Maßstab ihres Redens. Daher stammt ihr und unser Unfriede mit der Welt und ihrer Ordnung.

Wenn diese Weltordnung der Versklavung durch Elend und Armut Ägypten ist, durch die Anhäufung des Reichtums dieser Welt in den Händen Weniger Kanaan, dann muss die evangelische Kirche aus diesem Ägypten und aus diesem Kanaan ausziehen, das heißt: sich ihm diametral entgegenstellen.

III.

Wir versuchen, aus dem bisher Gesagten einige Schlussfolgerunen zu ziehen.

(1) Wir sind die Kinder derer, an die diese Verheißungen ergingen, Kinder der Propheten und der Apostel, Teilhaber ihrer Weltkritik und ihrer Gesellschaftsvision. Das Wort dieser Verheißung ist für uns, die wir unter den Verhältnissen dieser Weltordnung leben müssen, der Maßstab, weil der Gott dieser Verheißungen allein unser Gott ist, niemand und nichts sonst. Dieser Gott und seine Ordnungen (Zebaoth auf Hebräisch!) sind die Alternative. Deshalb können und dürfen wir niemals sagen: „Es gibt keine Alternative“.

Eine Kirche, die sich als Religionsgemeinschaft versteht und neben anderen Religionsunternehmen religiöse Dienstleistungen anbietet, mag sagen: „Es gibt keine Alternative“. Sie ist dann aber keine evangelische Kirche mehr, sondern nur noch Haus in Ägypten.

Evangelisch ist die Kirche, wenn an vielen Orten Gemeinden ernsthaft versuchen, nach dem Gebot Gottes zu leben, und sich ernsthaft auf das eine Wort des einen Gottes einlassen. Es gibt sie also: die evangelische Kirche in Deutschland. Aber die Worte, die wir aus dem Munde der leitenden Funktionäre der Kirche vernehmen, zeigen, dass sie ihre Kirche als marktgängige Anbieterin religiöser Dienstleistungen sehen, nicht als evangelische Kirche, sondern als liberales, kulturprotestantisches Unternehmen, auch wenn sie sagt: „Die Kirche ist kein Unternehmen“ (107). Die Kirche nicht, die EKD inzwischen sehr wohl.

(2) Die Evangelische Kirche in Deutschland wird immer mehr von Beweggründen geleitet, die dem Evangelium fremd sind. Damit hat sie sich vom Barmer Bekenntnis entfernt, sie nimmt das „Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft“ (118), den bürgerlichen Liberalismus, neben dem einen Wort Gottes als Orientierung für ihr Reden und Handeln und verwirft nicht länger „die falsche Lehre, als dürfte die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder den jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“ (Barmen, These III).

Die Denkschrift ist daher, theologisch gesprochen, eine Irrlehre. Nach allem, was der Evangelischen Kirche in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts widerfahren ist, scheint es uns heute dringend notwendig, zur Tradition der Theologie der Bekennenden Kirche zurückzukehren und eine neue Bekenntnisbewegung in Gang zu setzen.

Die evangelische Kirche muss wieder zur bekennenden Kirche werden und sie muss den fatalen Weg der liberalen Theologie und des Kulturprotestantismus, ihrer ägyptischen Behausung, verlassen. Bleibt sie auf dem Weg Ägyptens und auf dem Weg Kanaans, bringt sie die Einheit der Kirche in große Gefahr.